Netz aus Licht / das Verbinden der Klinken
Stammverlag Poetenladen bringt in einem groß angelegten Buchprojekt die Hauptwerke der 2021 verstorbenen Marie T. Martin heraus. Darin finden sich nicht nur ihre bedeutenden Gedichtbände, sondern es kommen vor allem auch ihre Prosa, Erzählungen wie lyrischen Miniaturen in dem gewichtigen Hardcover, über 400 Seiten, zu ihrem Platz. Darin unter anderem auch bis dato unveröffentlichte Zyklen, die lt. Herausgeberschaft bereits bis weit an ihre Publikation gediehen waren. Bis auf verstreute Arbeiten an verschiedener Stelle liegt damit ein literarisches Vermächtnis vor. Marie T. Martins Stimme war in vielen Genres außergewöhnlich. „Du nennst mich Zwiebelmensch“, hier ist nicht nur ihre Entwicklung chronologisch nachzuvollziehen, Leser*in wird sich fallen lassen in die dicht gesponnenen, manchmal nur kurz aufblitzenden Wortwelten bei Der Winter dauerte 24 Jahre. Mit Drucken illustriert und partitioniert von Franziska Neubert, wartet das Buch als ein Fundus auf, von dem vorweggenommen der Einstieg und der Abschluss die frappantesten Überraschungen hüten.
Im ersten Erzählband Luftpost, von 2011, der sehr frisch daherkommt, wenn auch hier etwas eng gesetzt, finden sich sprachliche Vorzüglichkeiten, in alltäglicher Perspektive erzählt, die das Abheben thematisieren, „ich steige auf eine Gummiente und dümpele mit iht durch die Kanäle, bis die Häuser alt sind“, möglicherweise das Hauptthema in Martins Schreiben. Flirrende Satzkaskaden, die dennoch anschaulich bleiben, besonders in Fünfter Stock entwickelt sich eine frei fließende Sprache unter Spannung, ohne dass es zwickt. „Die Züge fuhren ein und aus, wir ließen die Flaschen gegeneinander klingen und gründeten Zeitungen und Parteien. Wir legten unsere Bierlippen aufeinander und blieben lange vor unseren Haustüren stehen“.
Im Gedichtbanddebüt Wisperzimmer geht die Wortverspieltheit in ein neues Genre. Martin probiert ihre Stimme in verschiedenen lyrikgrafischen Zusammenhängen aus, „Nimm ein Blatt vor den Mund“. Straße, Licht und Zweige tauchen immer wieder, in Kreuzungen als Solisten auf. „Wolkenhafer / die Schrebergärten im Raureif“. Dabei arbeiten Narrativität, Sätze, Syntax gegen Aufzählung. Die Form wird gesucht, in der Auffüllung nachgedacht, gestreut. Neben dem Umbruch ist es der Wegfall der Satzzeichen, der dem sprachlichen Auftritt eine neue Dimension verleiht, trotzdem bleibt die gewählte Sprache, ihr Register, ihre Zügelung in einem selbstähnlichen Rahmen.
„Pakete mit Keksen die Waschmaschine wäscht Hemden
verkehrt herum es wachsen Geschichten an Leinen
geklammert hier unten fährt lautlos ein Boot aus Strichen
fährt durch die Fensterklappe nach oben“
Thematische Einkerbungen kommen allmählich, wie eine Ahnung in den Text / Kontext: „jederzeit könnte die Welt kippen und in den Korb / fallen wie ein Kopf es weben sich Alter und Abend in eins // sodass du bei wachsender Dunkelheit flüstern kannst“, was schließlich im brillanten Zyklus-Schlussgedicht „Im Wisperzimmer [...]“ kulminiert.
Eine wesentlich direktere Sprache wiederum wählt der darauf folgende Kleine Prosa-Band Woher nehmen sie die Frechheit meine Handtasche zu öffnen? von 2015. Hier kommt ein Zurückgehen der Form in den fließenden Umbruch zum Tragen, gefüllt mit beinahe protokollarisch an Realitäten schürfenden Texten. Die Erzählminiaturen selber werden eher wie Bilder hintereinander geschnitten, als dass sie selbst versliche oder sprachliche Bilder mit sich tragen – bis auf viele Ausnahmen natürlich. Auch das Historische, das Fotografische spielt ein Rolle in den hier vorgestellten Zyklen, nach Begebenheiten oder Eingriffen sortiert, von denen nicht jeder unmittelbar aufgeht. „Sich den Hügel hinunterrollen, unten ankommen und nicht mehr dieselbe sein“.
Große Ausgewogenheit erreichte Marie T. Martin in ihrem darauf folgenden letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichtband Rückruf, von 2021, bei dem die angesprochene Suchbewegung zu einem reiferen Auffinden geworden ist, das im Nachgang fast wie eine textliche Apotheose wirkt. Der Band wurde bei damaligem Erscheinen bereits ausführlich unter B E S P R E C H U N G E N rezensiert, daher wird er an dieser Stelle nicht erneut aufgerufen.
Die letzte Arbeit Martins, die hiermit erstveröffentlicht wird, aus dem Nachlass, ist die titelgebende Kleine Prosa Der Winter dauerte 24 Jahre. Beeindruckende wie verblüffende Sprachniederschlagungen an einer Schwelle, „mein Wahlfach war Schnee“, die möglicherweise zugelassen hat, dass sich etwas Ureigenstes befreit hat, die gesamte Komposition auf völlig konträren Polen beruht, „eigene Jahreszeiten hervorbringen“. Wiederum Erlebnisse, zu Zyklen geordnet, die zum Teil paradoxerweise leicht, fast abgehoben klingen in ihren phantastisch-ironischen Elementen, „Zellfenster von innen reinigen“, unterbrochen von Talismanen wie „Ein altes Marmeladeglas, gefüllt mit Schnee“. Obwohl wie in Diagnose genau alles prinzipiell auch ausgesprochen wird, gefasst. „Aber ich bin. Ins. Schwanken. geraten.“
In der „Praxis für Transformation“ beispielsweise, wo es eine „Vampir-Sprechstunde“ gibt, wird Realitäts- und Kundensprache so stark aufgetan, dass es sich fast um Slamtexte handeln könnte. Die Kunstfertigkeit hierin setzt sich auf jene Schwelle, versucht beides (alles) in sich zu vereinen. Meisterin Wenzi, Immerwald sind solche Schöpfungen, die kein Geheimnis mehr haben, offenlegen, gerade deswegen die handwerklich, bildlichen Talente Martins zur unverstellten Schau bringen, der kein koketter Schatten mehr anhaftet, ein es-ist-wie-es-ist besitzen, losgelassen wie absolut mit ihrem Inhalt umgehen: „Ein Fisch in meinem Körper“. Die Texte sind von taumelnder Genialität, ihre Ungerichtetheit, Jederzeitigkeit berührt. „Ich glaube, die Zeit ist eher wie eine Kugel, auf der man in allen Richtungen gehen kann.“ Die Glossartexte aus erfundene Mundart gehen fast erstmalig auch die Sprache selbst an: „Tschickigutt: Du bist ein richtiger Tschickigutt! Wer das hört, hat alles richtig gemacht.“
Kluge Schöpfungen aus einem letzten Band, der auf einem seidenen Faden geht und gerade dadurch noch einmal ein neues Kapitel aufschlägt. In aller Undeutlichkeit sehr zu empfehlen, sich darauf einzulassen. Im Nachwort schreibt Norbert Hummelt: „Kein Zweifel, dass Marie T. Martin in ihrem Schreiben Romantikerin war, ganz geistig und von einer unstillbaren Sehnsucht getrieben.“ Und wird nicht müde zu betonen, eine gewisse Verlorenheit zu konstatieren. Das ist eine Spur.
„Ich bin vorübergehend nicht oder
auf ganz anderen Wegen wieder zu erreichen“
Jonis Hartmann
Marie T. Martin: Der Winter dauerte 24 Jahre, Poetenladen 2024