8. Oktober 2024

Das Schänden der Tennissocken


In Jörn Birkholz’ aktuellem Roman Der Ausbruch, im Verlag Karl Rauch erschienen, geht es dem Vernehmen nach um teenage-aufgestaute Unaussprache zwischen Erzähler und den nicht genutzten Möglichkeiten einer Welt, die in eine andere Welt geführt haben. Letztere die eines wohlbekannten Alltags, eines Trotts, dem sozusagen alle anhängen und vor sich selbst zu rechtfertigen versuchen, warum. Das wäre eine Grundvoraussetzung, um im Falle des Erzählers sich selbst zu bemitleiden, obwohl ja, wie der Roman zeigt, alle Entscheidungen samt allen Schicksalsschlägen zum Greifen nahe waren. Das tut die abgebildete Stimme auch, doch Birkholz untermauert seine filmschnittigen Ambitionen mit einer durchgehend zum Kaleidoskop montierten Sequenzialität des Erzählstroms. Der Wechsel der Erzählzeit erst lässt das Aufblättern eines Lebens zu jenem romanhaften Spiel mit Information werden. Wie konnte das sein, das einander Verpassen mit Iza, der polnischen Femme, dem Gral des Ausbruch?


Im ersten Teil ist das Lieblingswort des leicht beleidigten Max „dämlich“. Eine Gartenlaubenstory um Heinzi und ein Messer und ein Ohr wird zu einer klischeetierten Gangstergeschichte, deren Plot eher auf Nouvelle Vague verweist, mit ausgedachten Gewaltfantasien, die sich vom Rückblendenbau jedoch eindeutig als Lesestoff zu erkennen gibt und bei grunzigem Sprachgebrauch wie in der Kneipe heruntererzählt, sagen wir: an Evening with Jörn Birkholz. Im weiteren Buchverlauf geraten wir in die Jetztzeit, ein Roadtrip der verkorksten Karrieren, das in einem sich überschlagenden Ende mehrere Fragen / Zukünfte klärt und tatsächlich gut funktioniert als dramatische Katharsis. Hier arbeitet Birkholz mehr oder weniger direkt mit der Verschaltung zu Film. Der Romanschluss offenbart die Referenzialität ganz: „Man konnte das Unglück, das Bailey empfinden musste und das er durch ein eingefrorenes Lächeln zu kaschieren versuchte, deutlich in seinem Gesicht ablesen. Und das war entweder unabsichtlich oder bewusst sehr genial von Stewart gespielt, oder von Capra in Szene gesetzt worden. Aber das Schlimmste war; George Bailey hatte aufgegeben. Er hatte sich mit seiner Situation – für alle Zeit in seinem Kaff gefangen zu sein – abgefunden. The End. ,Wärst du doch besser gesprungen, Jimmy’, murmelte ich vor mich hin. Mein Vater reagierte nicht. Irgendwann schaltete er um auf Sat 1. Stirb langsam lief. Hans Gruber stürzte gerade vom Nakatomi Plaza. Ich stand auf und ging nach oben in mein altes Zimmer.“


Die Schilderungen aus Schule, Arbeitsplatz, erster Liebe, Schwangerschaft, Familie, Krankheit sind betont gefärbte Realität. Birkholz gelingen jedoch immer wieder literarische Lichtblicke durch eingeschobene Satire: „Ich schaute zum Fernseher. Es lief eine Reisereportage über Hotels. Zwei mit Bikini bekleidete junge Frauen überprüften mit Handschuhen und Pinzetten bewaffnet, zumeist in gebückter Haltung, die Hygienestandards der Zimmer und konfrontierten darauf die Hotelbetreiber mit den erschreckenden Ergebnissen“, oder unaufgeregten Statements, die die Lage auf den Kopf treffen: „Ich überflog die Zeilen und fügte noch ein gerne zwischen uns und morgen. Das Ich freue mich löschte ich wieder“, „Sören stand perplex da und würgte an seinen Emotionen“, „Erschrocken stellte ich fest, dass ich mich glücklich fühlte“.


Der Ausbruch überhöht sich nicht. Der Text dient zwar als ein Vehikel dem Max-Erzähler zur Profilierung, seine Redeweise ist anfällig (in zwei Richtungen), doch davon abgesehen bringt der Roman den Umgang mit Zeit in mehr oder weniger gesitteten Verhältnissen als Basis von totaler Sackgasse zur Sprache, was ihn wohltuend von der Armee der abfeiernden Familienromane unterscheidet bzw. als bekennenden Außenseiter darin ausweist. Dennoch gilt weiterhin: Es gibt eine andere Welt. Sie ist in dieser Welt. Das schrieb Paul Éluard. Autor Jörn Birkholz lässt dagegen Protagonistin Iza es aussprechen: „Ach nichts! Wäre, hätte, könnte.“

Jonis Hartmann


Jörn Birkholz: Der Ausbruch, Karl Rauch 2024