13. September 2024

Batalski


Neun, sieben, acht, drei, sechs, fünf, acht, drei, sechs, vier, fünf, eins. Enter. DIESEN ARTIKEL KAUFEN WIR NICHT. Hätte Batalski sich ja denken können. Das Buch, irgendein preisgekrönter Schwedenkrimi, bringt nichts ein – zu alt. Im Grunde braucht man nur nach dem Erscheinungsjahr zu schauen. Alles, was älter als ein oder zwei Jahre ist, kann man vergessen. Oh, was haben wir denn da? Batalski stellt das versiffte Roßhalde von Hesse zurück in den Schrank, ohne die ISBN überhaupt einzugeben und greift sich das gut erhaltene – also noch nicht gelesene Werk Ein tödliches Geheimnis – in Blut geschrieben von Nele Neuhaus. Grad mal ein Jahr alt. Er schöpft Hoffnung, hämmert die ISBN ins Handy und tatsächlich: Momox bietet ihm 2 Euro und 13 Cent. Ab in die digitale Verkaufsbox. Ein sinnloses Glücksgefühl durchströmt Batalskis Körper, wahrscheinlich ein ähnliches Gefühl, das einen Spielsüchtigen kurzzeitig überkommt, wenn der Spielautomat mit fröhlichem Piepen ein paar Eurostücke ausspuckt.


„Na, was dabei?“, kommt es plötzlich von der Seite. Verdammt, Batalski hat nicht aufgepasst; da ist er wieder, der zigarrerauchende Fahrradmann mit dem langen Mantel und dem Indiana-Jones-Hut – allerdings in Schwarz. Batalski glaubte um diese Zeit, so kurz vor Mittag, hätte er seine Ruhe. Augenblicklich riecht es nach Raucherkneipe, obwohl sie draußen ein paar Meter vom Rhein entfernt vor diesem überfüllten Bücherschrank stehen. Der Hutmann schielt skeptisch auf das dicke Neuhaus-Taschenbuch in Batalskis Hand. Hutmann weiß, dass Batalski nicht zum Stöbern oder Schmökern herkommt – schon gar nicht in dem „mit Blut geschreibenen Geheimnis“ von Frau Neuhaus –, sondern lediglich um „abzusahnen“. Trotzdem scheint Hutmann Batalski zu mögen, denn er versucht ständig, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, wobei Gespräch nicht ganz richtig ist, vielmehr beginnt Hutmann jedes Mal einen Monolog, wenn er Batalski antrifft. Und er trifft ihn oft an, was Batalski ein bisschen peinlich, aber auch nicht zu ändern ist. Oft sieht Batalski den Hutmann, wenn er, ebenfalls mit Fahrrad, den Bücherschrank am Rhein ansteuert. Der schwarze Hut, der Rauch und der Mantel sind nicht zu übersehen. Rasch biegt Batalski in eine Seitenstraße und wartet dort einen kurzen Moment. Schnell hat er gelernt, dass der Hutmann sich immer für höchstens drei bis fünf Minuten beim Bücherschrank aufhält. Einmal konnte er ihn aus sicherer Entfernung sogar beobachten. Weder stellt der Hutmann etwas hinein noch nimmt er etwas heraus. Er sortiert! Hutmann stellt die Bücher ordentlich, soweit das möglich ist, zusammen, schwingt sich dann wieder auf sein Rad und macht sich auf den Weg zum nächsten, nicht weit entfernten Bücherschrank an der Mainzer Volkshochschule. Von dort geht’s dann zum dritten und letzten Bücherschrank, dem in der Mainzer Neustadt. Worher Batalski das weiß: weil er selbst diese drei Schränke aufsucht, um seiner kleinen Nebenbeschäftigung nachzugehen. Diese drei Schränke liegen alle verhältnismäßig nah beieinander. Mit dem Rad braucht er höchstens zwei bis drei Minuten von Schrank zu Schrank. Nach kürzester Zeit hat er sogar Hutmanns bevorzugten Zeiten mitbekommen. Hutmann dreht seine erste Runde recht früh morgens, dann eine zweite am frühen Nachmittag und er beendet den Tag mit einer letzten Runde am frühen Abend. Batalski weiß das alles so genau, weil er genau zwischen diesen Schränken wohnt, und er bemerkte den rauchenden Hutmann bereits, bevor Batalski selbst überhaupt auf diese Schränke aufmerksam wurde.


„Neuhaus?“, kommt er jetzt leicht angewidert aus dem Hutmann heraus. So was geschieht selten, oder fast nie, dass er Batalski direkt anspricht.
„Ich brauche ein Geschenk für meine Mutter“, lügt Batalski, „und es ist gut erhalten“, beendet er den Satz mit der Wahrheit.
„Ja viele ältere Leute mögen so was wohl“, entgegnet der Hutmann und beginnt sogleich damit, den Schrank aufzuräumen. Ob Hutmann ahnt, dass das meiste Chaos von Batalski angerichtet wurde. Tatsächlich ist Batalski immer recht hektisch und ungeduldig, wenn er sich dem Inhalt dieser Schränke widmet, und er schmeißt die „wertlosen“ Bücher einfach oben auf die anderen Bücher rauf. Zeit ist schließlich Geld. Während der Hutmann sortiert, stellt Batalski Das tödliche Geheimnis zurück ins Regal, nach dem Motto, vielleicht ist es ja doch nicht das richtige Geschenk für seine liebe Mama. Was ohnehin egal ist, da Batalskis Mutter in ihrem Leben nie Bücher gelesen hat, seit fünf Jahren tot ist und er das Ding, sobald Hutmann weg ist, sofort wieder aus dem Schrank fischen wird. Zudem schielt er auf einen relativ neuen gebundenen und gut erhaltenen, aber tatsächlich grottenschlechten Suter-Roman und kann es kaum erwarten, dass der Ordnungsfreak mit seiner Aufräumaktion fertig wird und zum Schrank an der Volkshochschule oder in der Neustadt verschwindet. Batalski befürchtet, dass der Hutmann sich extra Zeit lässt, weil er den „Plausch“ mit ihm, warum auch immer, anregend findet. Plötzlich gesellt sich eine ältere Frau zu ihnen beziehungsweise zwängt sich zwischen den beiden durch und stellt irgendein abgegrabbeltes Kochbuch und Frank Schirrmachers Das Methusalem-Komplott umständlich in den Schrank. Wenn sie gleich weg ist, wird Batalski sich auf die Schirrmacher-ISBN stürzen. Sofort rückt der rauchende Hutmann die beiden Neuankömmlinge gerade ins Regal, die Omi schluderig reingestellt hatte. Die alte Dame verschwindet wieder, nachdem sie kurzzeitig die Neuhaus so halb aus dem Regal zog – Batalski blieb fast das Herz stehen –, aber sie gleich darauf wieder zurückschob. Sie fühlte sich sichtlich unwohl zwischen den beiden Herren und der penetrante Zigarrenrauch tat sein Übriges. Batalski starrt weiterhin auf Suter.
„Kennen Sie eigentlich den Kollegen mit dem tiefergelegten Fahrrad?“
„Bitte?“, fragt Batalski.
„Na, der mit dem tiefergelgten Fahrrad? Der hat son Pferdeschwanz und fährt immer zwischen den Schränken hin und her.“
„Ach der“, sagt Batalski, obwohl er keine Ahnung hat, um wem es geht.
„Ja der, der macht das seit 2010, solange beobachte ich den schon. Also im Grunde solange diese öffentlichen Bücherschränke hier überhaupt stehen.“
„Aha“, erwidert Batalski und starrt weiter auf Suter und den schon verstorbenen Schirrmacher.
„Ja, der lebt davon! Der hat sein ganzes Leben nie gearbeitet, bezieht Bürgergeld und fährt den ganzen Tag hin und her und sucht die Schnäppchen. Ich beobachte den schon lange, wissen Sie?“
„Aha.“
„Der nimmt hier so ’n paar Schrottbücher raus, dazu die, die ein bisschen was wert sind, und fährt dann zum nächsten Schrank und stellt die Schrottbücher da wieder rein. Vestehen Sie, was ich meine?“
„Ja, ja.“
„Hab ich alles beobachtet. Damit die Leute nicht denken, dass er nur nimmt. So stellt er den Dreck wieder rein und die Guten behält er natürlich. Und dann fährt er zum nächsten Schrank. Verstehen Sie, was ich meine?“
„Ja, ja.“
„Der Kreislauf im Schränkedreieck“, lacht er jetzt rauchausstoßend.
Batalski grinst ihn dümmlich an.
„Der ist auch ziemlich aggressiv und duldet keine Konkurrenz.“
Der Hutmann blickt ihn jetzt ganz spitzbübigig an und pafft an seiner Zigarre. Batalski wird ein bisschen schlecht. Aber er kann nicht gehen, nicht ohne seine Ausbeute.
„Der wohnte bis vor Kurzem noch bei seiner Mutter. Die ist jetzt wohl auch schon seit zwei Jahren tot. Und so dreht der seine Runden, Wie gesagt, seit 2010! Ich kenne seine Zeiten ganz gut. Die erste Tour macht er gleich ganz früh morgens, um alles was spätabends noch reingestellt wurde abzugreifen? Viele machen grad hier am Rhein noch Abendspaziergänge und stellen dann gerne noch die Bücher rein. Da hinten wohnen doch die ganzen Bessersituierten. Er weist zu irgendwelchen stylischen Neubauten hin. „Die Leute stellen dann die neuen teuren Bücher da rein, die sie kurz vorher zum Geburtstag oder zu sonst was bekommen haben – irgendwelche Optimierungsratgeber oder Bücher über  Beschneidungsschicksale im Sudan”, lacht er, „und die sie sowieso nicht lesen werden. Abgesehen davon, reiche Leute lesen ja nicht.”
Arme Leute auch nicht, denkt Batalskis.
„Aber diese Bücher bringen noch was ein, und dann kommt morgens ganz früh der Kollege und holt alles raus. Seine zweite Tour macht er dann nachmittags und die letzte am frühen Abend.“
„Aha.“
„Ja, ein ganz unangenehmer Typ ist das“, beendet der Hutmann seinen Monolog, während er weiterhin damit beschäftigt ist, die Bücher ordentlich in Reih und Glied zu stellen. Batalski verkneift sich zu husten, der Rauch ist langsam unerträglich.
„Also dann, noch viel Erfolg beim Suchen“, verkündet der Hutmann plötzlich, schwingt sich auf sein Rad und verschwindet. Der Zigarrengeruch bleibt zurück und das sogar unverhältnismäßig lange. Nachdem er weg ist, greift sich Batakski sofort den Suter-Roman, mit dem kindischen Titel Der rosa Elefant, 1,51 Euro. Stabil. Dann wird noch der Schirrmacher gecheckt, der nichts einbringt. Vielleicht hat Omi es vorher geprüft, aber wahrscheinlich eher nicht. Omis sind da nicht so. Das Teil ist von 2004, daher für Momox komplett wertlos. Dennoch, zusammen mit einem alten Sartre-Taschenbuch Mai `68 und die Folgen (0,15 Cent) hat Batalski immerhin eine Ausbeute von insgesamt 3,79 Euro. Mal sehen was der Schrank an der Volkshochschule zu bieten hat. Allerdings sollte er noch ein bisschen warten, bis sein rauchender Freund dort aufgeräumt hat. Aber vielleicht auch lieber nicht zu lange, bald ist es drei und Batalskis schärfster Konkurrent könnte schon mit dem tiefergelegten Fahrrad auf dem Weg hierher sein. Das ist Batalski langsam alles zu aufregend, er sollte sich einen neuen Job suchen. Er steigt auf sein Fahrrad und macht, dass er verschwindet. Die Luft riecht immer noch nach Zigarre.

 

Jörn Birkholz