13. September 2024

Mrs Conrad und Mrs Schuttpelz



Der Literaturmythos Lydia Davis lebt weiter mit einer neuen Publikation auf Deutsch, bei Droschl, betitelt Unsere Fremden. Funktional, mit Bedacht übersetzt von Jan Wilm, dessen Zurückhaltung der Sprödigkeit von Lydia Davis’ Stimme zugutekommt, kompiliert sich wie eh und je eine hauptsächlich auf Irritation angelegte Literatur der Kürzestgeschichten, die auf witzige Weise mit ausbrechenden Langstorys abgewechselt wird – oder sind es normal lange Storys, die gestört werden von beinahe lyrischen Einschübseln? Das beherrscht Davis wie kaum jemand, selbst eigene Korrekturen oder Nachbemerkungen zu den eigenen Geschichten mitten im Abfolgegewebe folgen zu lassen, als wäre es das Normalste der Welt, sich selbst als ICH auf jede Form von sprachlicher Verwertbarkeit abzuklopfen. Darin liegt aber, auch wie eh und je, ein Problem begraben, das sich von Anfang an durch das Werk dieser außergewöhnlichen Autorin zieht: das Warten auf Pointen, das sich beim Lesen einstellt. Fallen sie aus oder sind sie vorhersehbar oder letztlich daneben, schafft einen grundsätzlichen Enttäuschungsraum zwischen den gelungenen Einheiten. Auch in Unsere Fremden folgt dicht an dicht Grandioses mit Beifang, von dem einzig die Irritation bleibt, warum eigentlich dieselbe Autorin so unterschiedliche Temperaturen, Temperamente nebeneinander zulässt.


Ein absoluter Höhepunkt in Sachen Subversivität ist „Sorry für die Störung“, eine avantgardistische Liste aus Gesuchen, die Ihresgleichen sucht. Alles scheint auf dem Kopf zu stehen, die Literatur ist frisch, schließt direkt an Perec oder andere an, die sich von nichts etwas haben vorschreiben lassen, ihr eigenes Thema fahren. Dabei gibt es zwei Modi von Lydia Davis. Die scheints beobachtenden Stücke, die bedeutend aufgeladener sind, voller Querverbindungen wie sprachlicher Brillanz, und die scheints erinnerten oder gar ausgedachten, die wie mit Handbremse fahren, denen oft so etwas wie eine spritzige Unmittelbarkeit fehlt. Ein insgesamt mutiges Schreiben, das sich nicht selten das Scheitern zugesteht, weil es beispielsweise in kalte Regionen stößt, wo sich die Werte umdrehen oder schwellenhafte Informationen ausstrahlen. Bei derartig vielen Realien in den Texten ein mithin beinahe außerliterarisches Problem. Zu der ersteren Kategorie gehört „Hier auf dem Land“, einer der besten Beiträge in dieser Anthologie-von-sich-selbst, der beginnt mit:


„Hier auf dem Land gibt es Höfe voll rostender Autos, die als Ersatzteillager aufbewahrt werden. Ein blasses kleines Mädchen steckt sich die Finger in die Ohren, wenn der Motor eines Familienwagens aufheult.
In jedem Laden tauchen dieselben Leute auf, weil sie hier alle am selben Nachmittag in denselben Geschäften einkaufen gehen.
Der Preis einer Tombola ist eine Kettensäge, und das allein scheint uns begehrenswert.

Alle Nachbarn haben zu viel Salat in ihren Gärten – auch wir.“

Interessanterweise gibt es immer wieder Kurzstücke, die letztlich mit einem Umbruch verfasst sind, also die Gattungsgrenzen zur Lyrik ein ums andere Mal überspringen. So zum Beispiel in „Spätnachmittag“:


„Wie lang der Schatten ist,
der sich über die Theke legt,
geworfen von diesem Salzkorn.“
– was im Aufbau schon fast an einen Haiku erinnert.“

Mit Unsere Fremden schreibt Lydia Davis ihre eindrucksvolle Prosaarbeit aus und weiter. Jan Wilm tut den Storys, Schnipseln, Unkategorisierbarkeiten als Übersetzer sichtlich gut, das Wesentliche, die Präzision von Davis’ Sprache, erfasst seine Übertragung in der Tat haargenau.

Jonis Hartmann


Lydia Davis: Unsere Fremden, Droschl 2024