22. August 2024

Gruselige Tage


Herausfordernd anders, so schreibt Can Xue, die „wichtigste Vertreterin der literarischen Avantgarde in China“. Was das hierzulande bedeutet, sprich rein auf ihre Literatur in deutscher Übersetzung bezogen, wird seit einiger Zeit versucht zu beleuchten, bleibt wie im Fall von Schattenvolk, gerade bei MSB von Eva Schestag übertragen erschienen, aber möglicherweise für eine hiesige Leser*innenschaft nicht ohne Weiteres in Gänze erfahrbar. Zu ausgeholt ist die Geistes- bzw. emotionale Folgewelt aus aktueller Politik, Vergangenheit, Erinnerungsanfassung, in der Can Xues Werk entsteht, um es genau dieser Welt (ist es eine Vorreiterwelt oder eben nicht?) ziemlich robust entgegenzusetzen, in ihrem eigenen Schreibritus wohlgemerkt. Hintergrunderfahrung, -gefühle mit jenem China sind von Vorteil, um sich Can Xues Auseinandersetzungen zu stellen, denn auf rein erzählerischer Ebene sind die Geschichten in Schattenvolk beinahe dürftig, eher auf Ebene einer Anti-Erzähltradition verortet.
Can Xue redigiert nicht, sie verfolgt eine écriture automatique, gibt sich ihren Räumen hin, verfolgt sie, sozusagen synchron geschaltet im Verfassen zu ihren Leser*innen, beide wissen im nächsten Moment nicht, was geschieht. Das macht die Literatur nackt in jedem Augenblick, erklärt auch die pro Absatz mindestens einmal auftauchenden konkreten Fragen, z. B. „konnte es sein?“, „wie war das möglich?“, „wäre es möglich, dass XY demnächst dies & das ausführt?“ (vereinfacht) & etc., die eine gehörige Form Nervigkeit bei jeder begeisterten Geschichtenverschlinger*in auslösen, denn dieserlei Fragen sind doch genau die eigene Hirntätigkeit, die beim Lesen zwischen den Zeilen stattfindet theoretisch – darüber entsteht der Aufbau von Spannung, Erwartung & mithin die Chance des literarischen Gestaltens, schließlich das Spiel mit den Leser*innen. Weil Can Xue aber genau das unterläuft, die vollkommen logischen, einleuchtenden Fragen bis zum Exzess ausspricht, entzieht sich jede Erzählung einer möglichen eigenen Anteilnahme. Das ist besonders. Das Material gehört ihr, es bleibt ihres, man kann es ihr nicht nehmen. So etwas ist in einem repressiveren Kontext ein Mittel zur Freiheitsperformance, wie ihr Schreiben, der Ritus ebenfalls ein körperliches Entgegensetzen bedeutet, jeden Tag, jeden Abschnitt. Can Xues Schreiben ist so wichtig wie ihr Text. Nur dass ihr Schreiben nicht abgebildet werden kann in einem Buch, das zunächst nach „Meisterin“ der Erzählkunst aussieht, was dem Terminus Erzählen aber nicht ganz zu Leibe rückt. Ganz sicher greift eine hinzugestellte Analogie wie kafkaesk etc. einfach überhaupt nicht, nur weil aus Mäuse- oder Rattenperspektive eine labyrinthische Psychologik „erzählt“ wird wie in Geschichten aus dem Slum, solche Vergleiche blieben an einer Oberfläche der Worte kleben, die eben das außerliterarische Performen ihrer Themen durch den Schreibprozess unsichtbar machen wollen. Wie zudem das Thema der Abstraktion, das völlige Fehlen beinah jeglicher emotionaler Tiefe der Figuren, Figurinen, belebter Bäume, Tiere etc. äußerst schwierig beim Mal-eben-so-lesen verdaut werden kann. Die Bildwelten Can Xues sind, obwohl exakt beobachtet, d. h. gefühlt, widergegeben vorgeführt wie ein Diorama, das heißt maschinell abstrakt – sie stehen für nichts, wiederum ein unangreifbarer Standpunkt, außer, was hinzugedacht werden muss. Das heißt, die Kontextualisierung, emotional, muss selbst vorgenommen werden, eine im Westen praktisch nicht verkäufliche Literaturhaltung, die aber wiederum mit dem urchinesischen modularen System aus Zeichen, Bildzeichen, Silbe & alltäglichem Kontextaufbau durch die Gegenüber beim Sprechen gerade einhergeht.
Die Frage nach den Sprachregistern im Deutschen für eine abstrakt-bildliche, möglicherweise non-identifikatorische, d. h. im Urton paradoxen Sprache (von übersetzter Sprechperspektive gesehen) ist noch mehr als üblich zu stellen, wenn wenige Silben eine ganze Menge bedeuten können, ist der Kontext sensibel. Ist das schaffbar? Muss sich selbst in die Waage geworfen werden?
Eva Schestag tut dies. Worte wie „Design“ des Nestes aus dem Mund einer sprechenden Elster, „Chuzpe“ und auch „meschugge“, „Nudelbude“, „Wirtschaft“ sind u. a. gewählt worden, die zusätzlich zum personal-logischen abrupten Erzählverlauf mit sehr eigenwilligen, adjektivlos nüchternen, oft brutalen Events in die Leseidylle, wenn sie da wäre, hineingrätschen & dem eigenen Kontextbau stilisiert widersprechen. Damit erreicht Can Xue auch in der Übersetzung die Spiegelsituation: Wer sie liest, liest sich selbst. Theoretisch. Die Syntaxgänge sind offen & sie sind es nicht. Vielleicht geht dies in das Thema Wortanimation. Trotz dieser einigermaßen theoretischen Überlegungen gibt es aber mehrere klar ablesbare Wesenszüge in Schattenvolk, die immer wiederkehrende, sehr einfache, sehr aktuelle Dinge bezeugen. Wandel, Veränderung, Herrschaft, Verdrängung, Biegung, offene Enden prognoselos.
In fast allen diesen Erzählungen, die Perspektive ist meist ein Ich, widerfährt diesem Gewalt, Unterdrückung als direktes Eingreifen eines undefinierten Außen (wobei es völlig klar ist, dass hier etwas Menschengemachtes im Spiel ist) oder die Umwelt, oft aus einem subproletarischen Winkel wahrgenommen, verändert sich schneller als das Biomorphe mitkommt. Räumung und Abriss, „auf dieser Welt geschehen umwälzende Veränderungen“, „rasende Entwicklung“. Es gibt kein Entrinnen, zwar kleine Freuden, humorvolle Episödchen, „Haha, oben ist also unten“, ausgesilbte Onomatopoesie, in „Das alte Haus“ herrscht beispielsweise ein fast traditioneller ausgeglichener Erzählduktus, aber der deprimierende Charakter der hier ausgewählten Erzählungen ist beachtlich. Can Xue befreit sich von etwas, die Leser*innen könnten zwar das Buch weglegen, befreit sind sie aber nicht von dem Weltspiegel.
„Jetzt bin ich nur noch ein Platz“, sagt eine Weide in „Bekenntnisse eines Weidenbaums“, die sich Gedanken macht, das Bewusstsein verliert in der Hitze, den problematischen Gärtner auszuhalten hat. „,Dies ist nämlich der erste Regenguss in diesem Jahr’, sagt das Taiwangras zufrieden.“
Can Xues Werk ist ein origineller Beitrag in Sachen Entfremdung. Ihre Texte stellen die Frage nach dem Zusammenleben, der Koexistenz wie der gegenseitigen Abhängigkeit. Fleischbrühe, Sonne, mörderischer Lastwagen, Viren, Dreck, Flut, die Kostbarkeit eines Sumpfs in einer trockenen Stadt sind die Faktoren im Kosmos. Das ganze als Umschauritus inmitten von Bewegungsmustern zu einer Raumtechnik verwoben, die durchaus an César Airas Romane erinnert, auch bei MSB zu Hause. Die Wandel sind lange vorauserfahren. Can Xues Verfahren kennt kein Zurück. „Ich, dieser Schatten, der einen Schwanz hinter sich herzog, begann sich wie wild zu winden.“ Es sind Nachrichten.

Jonis Hartmann

 

Can Xue: Schattenvolk, Matthes & Seitz Berlin 2024