Familienaufstellung
Hans-Christian Danys Buch „Schuld war mein Hobby – Bilanz einer Familie“ sollte zur Pflichtlektüre an Kunsthochschulen werden. Kunsthochschulen sind, ganz allgemein, Trainingsstätten für die Selbstermächtigung des Einzelnen, ganz im Sinne der Aufklärung. Gleichzeitig sind sie eingebunden in das komplizierte Kontrollgeflecht moderner Gesellschaften. In denen der Einzelne durch die Mehrheit, die Mehrheit durch Einzelne, Minderheiten durch Mehrheiten, Minderheiten durch Einzelne usw. kontrolliert werden. Dazu kommt Familie als ein weiterer Faktor.
„Schuld war mein Hobby“ ist ein Lob auf die Kunsthochschule – Auffangbecken für alle möglichen „Idioten der Familie“* und Schwachköpfe – ja, ich habe eine Schwäche für den Kopf. Und für jene, die eine Pause von der Familie, dem Zuchtgebiet für Neurosen mit seinen Mauern aus Schweigen, brauchen.
Gleichzeitig ist die Familie unser Schöpfer, dem wir Dank schulden. Schulden. Man muss sich nur einmal fragen, ob wir unsere Eltern jemals freiwillig kennengelernt hätten? Und um die unterschiedlichsten Erscheinungsformen von Schuld und Schulden geht es im Buch von Hans-Christian Dany, anhand seiner Familiengeschichte. So hinterlässt sein Vater nach seinem Tod einen Schuldenberg, den Dany versucht abzutragen. Wenig später bring sein kleiner Bruder sich um und hinterlässt Schuldgefühle. Aber es geht auch um die deutsche, also geerbte und vererbte Schuld – und auch die seiner Generation Jahrgang ’66, was den persönlichen Konsum betrifft. Dany zeigt, wie er mit angenommener, denn eine Erbschaft kann auch ausgeschlagen werden, bewilligter Schuld (Krediten) und Schuldverpflichtungen umgehen kann. Gleichzeitig beschreibt er die Bewegung des „Kapitals der Be- und Achtung“ in seiner Familie und als Künstler.
Meine und die Kunsthochschulzeit des Autors haben sich etwa um 1 Jahr lang überschnitten. Den Schulabbrecher Dany umgab damals der Nimbus eines Junggenies, auch wenn man nicht so genau wusste, was er eigentlich machte, und er auch nie etwas zur „Produktreife“ brachte. Doch er schrieb, essayistisch, und führte das erstes Interview mit Christoph Schlingensief. Im Buch beschreibt er seine Diplomarbeit als Künstler, die aus einem Collage-Buch mit Fotos seiner täglichen Ausscheidungen, kommentiert mit Schriftstücken zum Thema Selbstmord, besteht. Die Arbeit wird 1989 mit summa cum laude bewertet, wie er nicht ohne Stolz schreibt. Und vom Protokollieren der eigenen Scheiße ist es nur ein kleiner Schritt in die Literaturgeschichte; zu Thomas Manns Tagebüchern. So wie es im Buch einige Literaturverweise auf Thomas Bernhard, Christian Kracht, eingebunden in seine Biografie von Punk und Geschichten aus Norddeutschland, gibt. Schreiben hat seinerzeit in Hamburg, auch für Kunststudenten, bedingt durch seine Verlagslandschaft, immer auch eine öffentliche Komponente.
Ich arbeitete mit Dany zusammen. Solange wir nicht wussten, was wir wollten, hefteten wir unser Nichtwissen zusammen. Wir gründeten ein Kunst-Fanzine. Anfang der 90er, 5 Männer, Dany und ca. 10 Frauen. Davon steht nichts im Buch, sagt aber etwas über die 90er in Hamburg. Das traf den Indie-Nerv jener Zeit. Die 68er-Generation steckte beim Marsch durch die Institutionen in diesen fest, uns blieb der freie Markt. Es entstanden Musiklabels, Galerien, Kleinstverlage, Film-, Produktionsfirmen, in denen später die Generation Praktikum dienen sollte und die bei Erfolg von Major-Firmen geschluckt wurden. Gleichzeitig unterstützte die Regierung sogenannte Ich-AGs und vergab Gründerdarlehen, parallel wurde das Druckmittel Hartz IV implementiert. So ein kurzer Abriss der 90er. Und da es keine Außerparlamentarischen Oppositionen mehr gab, konnte nur der Sozialstaat angerufen werden, der uns, Ende der 90er, nun vor dem aufkommenden Neoliberalismus retten sollte.
Nach dem Tod von Danys Vater erbte die Familie Millionen (Schulden!) und die Positionen in der Familie mussten neu verhandelt werden.
1988, 10 Jahre nachdem mein Bruder sein Kunststudium in Hamburg abgebrochen hatte, wurde ich an eben dieser Kunsthochschule angenommen. Mein Bruder, frisch aus Amerika zurück, widmete sich jetzt nur noch der Religion und wurde Hilfsarbeiter. Meine Schwester blieb Bäuerin (symbolisch) und ich studierte. Damit blieb die innerfamiliäre Drei-Ständegesellschaft erhalten. Und da sich nichts für meine Eltern änderte, mussten sie sich nicht ändern. Jetzt übernahm ich den Familienauftrag und studierte. Dummerweise glaubte ich, aus freiem Willen an der Hochschule zu sein, sodass mich die Vorstellung, doch nur der familiärer Konditionierungen zu folgen, für volle zwei Jahre lähmte. Wo ist da das Selbst, fragte ich mich? Dann fing zu schreiben an.
Zurück zum Buch: Hans-Christian Dany war der ältere Bruder, der den Ansprüchen seines dominanten Vaters nicht gerecht werden wollte und in einer Mischung aus instinktivem Selbstschutz und weiser Voraussicht es wohl auch nicht konnte. Jedenfalls noch nicht. Sodass sein jüngerer Bruder die familiäre Pole-Position übernahm.
Anfang der 90er war die Hochschule der Künste Hamburg ein wunderbarer Garten, den Dany auch so beschreibt. Unter dessen starken Bäumen konnte man herrlich ausruhen, im Schatten sitzen und Löcher in die Luft starren. Ein gutes Training, unbekannte Ressourcen zu entdecken und Techniken des Selbst zu entwickeln. In Hamburg gab es keinen Bentley- oder Rolls-Royce-fahrenden Prof wie in Düsseldorf, der uns vorlebte, dass man mit Kunst Geld verdienen konnte. Davon bekamen wir erst mit Jonathan Meese, Daniel Richter, Franz Ackermann, Christian Jankowski, Peter Piller, eine Generation nach uns, eine Vorstellung. Im Laufe des Bologna-Prozesses wurden dann die starken Bäume gefällt. Bäume, in deren Schatten sich auch Dany vor der Familie versteckt hatte.
Nach dem Tod seines Vaters war Dany Schuldenmillionär. Zunächst musste er für Mutter und Bruder sorgen. Dann nahm sein Bruder sich das Leben. „Schuld war mein Hobby“ ist auch die Erzählung von einem, der seine Geschichte selbst in die Hand nimmt. Ein Antiheld, der an seinen Aufgaben wächst, nachdem er sich lange geduckt hatte, Langeweile und einen langen Atem an der Kunsthochschule trainierte, einen reizend-charmanten Sohn zeugte, um dann als schuldbeladener Frühstücksdirektor wiederaufzustehen. Im Sinne der Erhaltung der Firma, der Sorge um den Bruder und die Mutter. Und da Schuld sein Hobby war, lesen wir dieses Buch als eine Erfolgsgeschichte. Denn: Seit Freud gesagt hat, der Künstler heile seine Neurose selbst, heilen die Künstler ihre Neurosen selbst – wie es 1993 der Buchtitel eines anderen Hamburger Künstlers, Heinz Emigholz, verspricht.
Christoph Bannat
Hans-Christian Dany: SCHULD WAR MEIN HOBBY – Bilanz einer Familie
Nautilus Flugschrift, Broschur, 128 Seiten, März 2024
Heinz Emigholz: Seit Freud gesagt hat, der Künstler heile seine Neurose selbst, heilen die Künstler ihre Neurosen selbst, Martin Schmitz Verlag
* „Der Idiot der Familie“, Jean Paul Satres Biografie zu Gustav Flaubert