9. Juni 2024

Denkschrift zu einer Denkschrift


Eine Rattenlinie führte nach 1945 vom besiegten Nazideutschland nach Südamerika. Josef Mengele, Klaus Barbie und andere Größen des Regimes kamen über sie davon, entgingen der Festnahme, einer Anklage, ihrem ‘lebenslänglich’ oder, je nachdem, der Todesstrafe. Die katholischen Kirchenfürsten, vor allem die ganz oben im Vatikan, sollen die Linie mit gelegt haben. Eine andere Linie führte nach innen: Im zertrümmerten Deutschland tauchten NS-Verbrecher unter auf Gutshöfen, in Verwaltungsstuben und, so lässt sich mutmaßen, hinter Klostermauern.


Oktober 1950. Auf den Linien herrscht Verkehr, neu ist das geteilte Deutschland. Im Westen, wo Albert Pütz’ stimmungssensibler, stilistisch anspruchsvoller und exzellent recherchierter Roman Hecht in Himmerod seine Schauplätze hat, gibt es die Adenauerrepublik, die sich wieder bewehren will als Teil der NATO. In Ostdeutschland liegt der Systemfeind, der sich als Staat ideologisch auf einen Karl Marx gründet. Im Kloster Himmelrod in der Südeifel dürfen seine Schriften nur umgekehrt im Buchregal stehen.


Ein allzu gütiger Abt öffnet dafür die Pforten für einen Waffen-SS-Kommandanten. Dem zum Laienbruder Jonas umgerubelten Nazi schreibt Pütz wie beiläufig – und damit sehr effektiv für alle, die informiert sind über die zahlreichen zeithistorischen Hintergründe – die Banalität des Bösen ein. Der Klosterlikör könne gut und gerne ein paar Umdrehungen mehr haben, um richtig zu wirken, findet Bruder Jonas: so wie die Männer seines Kommandos am besten mit Hochprozentigem funktionierten, wenn sie Juden exekutierten. Auch ein KZ-Überlebender nimmt im Kloster die Kutte, für Klosterbruder Basil nimmt der Roman merkliche Anleihen bei Umberto Ecos Name der Rose:


“In Basils Zelle sind Regale mit Büchern und Schriften gefüllt, die zu besitzen und zu lesen der Ordensregel widerspricht. Deswegen weiß er auch so manches, was zu wissen ihm eigentlich nicht zukommt.”


Bruder Felix, ein bildender Künstler mit Faible für die Maler der Moderne und ehemals Sanitätssoldat in Himmelrod, komplettiert das Personal der Neumönche. Mit seiner Rückkehr an den sakralen und zugleich sehr weltlichen Klosterort – Felix ist der Vater des unehelichen Kindes einer blutjungen Fotografin aus dem Dorf – steigt der Roman ein. Felix, vormals Guido, und diese Martha, dazu der alte KZ-Häftling Basil, der es in seinem vorklösterlichen Leben ebenfalls zum Vater eines Sohnes gebracht hat, werden in einer gekonnten Springprozession des Erzählens zu Zufallszeugen einer Zusammenkunft von dick mit Schuld behangenen und sich dennoch verfemt fühlenden alten Wehrmachtlern und Angehörigen der SS. Es sind die Wegbereiter der neuen Bundeswehr im Auftrag des Kanzlers persönlich. Mitten im Koreakrieg erstarkt hinter katholischen Mauern ein Militär, das noch einmal Anlauf nehmen und zu Ende bringen will, was von und unter Hitler verbockt worden ist. Gewollt spielt Albert Pütz mit Worten und Reimen: “Kusanus und Pusanus” wegen Pusan, der koreanischen Frontstadt.


Im Kloster konferieren die Militärs, herausgekommen ist in der historischen Wirklichkeit dabei ein Papier, die faktische ‘Himmeroder Denkschrift’. Im Roman kommt es um dieses Treffen zu einem anderen Showdown, der fantasmagorischer und Zeitebenen-überspringender kaum sein könnte. Der titelgebende Hecht und sein angestammtes Element spielen ihre Rollen aus.

Albert Pütz schilderte das alles schon 1990, der Roman ist unter der Herausgeberschaft seiner Tochter jetzt neu aufgelegt worden. Dreieinhalb Jahrzehnte machen auch etwas mit einem Sujet: Hier machen sie es aktueller denn je. Immer noch und neuerdings wieder suchen sich nicht nur die alten Nazis ihre Lücken und Schlupflöcher hinein in Diskurse und hin zu einer breiten Akzeptanz. Was 1950 die Wiederbewaffnung Deutschlands war, vorangetrieben von viel zu vielen Täterchargen aus dem Dritten Reich, sind heute die Rechtspopulisten und ein Klima der erneuten Wiederertüchtigung, die nötig sei wegen der Ukraine und Putin, China und den Zigtausend Migranten im Mittelmeer, denen todischer nur mit Marineschiffen beizukommen ist.

Bruno Arich-Gerz

 

Albert Pütz: Hecht in Himmerod