13. Mai 2024

Fantasie und schürfende Tiefe


Irgendwann klingelt der Firstziegel, er ist technisch ein Telefon und gleichzeitig ein Medium ins Unverfügbare, weil längst Verstorbene. Die Icherzählerin nimmt ab, Margarethe aus dem 16. Jahrhundert ist dran und verheißt, was keine Linguistik in der herkömmlichen Welt leisten kann: sich auszulassen über ein Sprechen voller geheimnisvoller Resonanz statt über die zu Grammatiken sezierten, ein für alle Mal den jeweils Sprechenden zu- und überhaupt sauber geordneten Zungenschläge der Menschen. Die Erzählerin begeistert es: „Eine ganz andere Perspektive auf die Sprache insgesamt? Also ein anderes Modell, eine andere Theorie, und alles in Spuren noch auffindbar?“ (169).


Gewinnen lassen sich Modell und Theorie zum Beispiel im Ziegelplattengrab. Anne Storchs gleichnamiger Roman weist es nach, wobei die Erzählerin am Firstziegeltelefon nur inszeniert wird als eine, die noch nicht erfahren hat, was Baukeramik – Firstziegel und Gräber aus anderen Ziegeln – unterseitig zu bieten haben an Geschichten. Schließlich ist sie selbst es, die körpersprachliche Gesten als wirkmächtige Sprachkörper auf Heiligenbildern in Bozen ausmacht und das Wort pùj aus dem Luwo in Khartum kennenlernt, das nicht nur einen muffeligen Geruch beschreibt, sondern selbst Riechpforte ist zu einem Kosmos, in dem Wesen nicht verwesen, sondern unterbrochen sind in ihrem Sein und anders weiterduften.


Im Ziegelplattengrab ist ein beinahe reiner Ulysses mit einer Schleife drin. Der Roman beschreibt streng von morgens bis spät und dann noch mal den Tag einer unangenehm belesenen, dafür das komplizierte Angelesene sehr angenehm herunterparlierenden Erzählerin. Am Abend begegnet sie Dromm, der den Job des Taxifahrers der Mühle des universitären Forschungsbetriebs vorzieht, in dem es doch nur um Unterwürfigkeit und das Durchkauen des eh längst Durchgesehenen geht:  um ,submission’ und ,review’, was hübsch doppeldeutig auch für das akademische Ritual des Einreichens von Aufsätzen und deren nochmalige Durchsicht steht.


Dromm hält es wie die Erzählerin nicht mehr aus in einer Welt der nicht nur vermessenen, sondern nach ihrem Abstecken ordentlich ausgebeuteten und per App verfügbar gemachten Sprache. Das linguistische und das koloniale Projekt des Kartierens fallen auf unheimliche Weise in eins und Storchs Geschichte zieht daraus Konsequenzen, wenn sie „die Verwandlung der Sprache in ein zahlungspflichtiges Abonnement“ (241) beschreibt. Dabei gehen Vielfalt und die Unterseiten, das Unverfügbare, aber in Spuren noch Auffindbare drauf und zahlungsunfähige Nutzer werden in Themen- und Safariparks verbracht.


Dafür das andere, das die Erzählerin umtreibt als Ziegelsucht, die in Mauerwerken das von der imperialen und wissenschaftlichen Moderne Gereinigte zum Vorschein bringt. Dromm macht es zum Archäologen von Kunstsprachen wie Shinsali (auf Conlang.fandom.com und also aus der Gamerszene), dem Volapük oder Esperanto, das seinen so ungemein interessanten Rest Unkartiertes nur deswegen behält, weil sein Erfinder vor Fertigstellung der ganzen Grammatiken und Wörterbücher das Zeitliche gesegnet hat. Im Ziegelplattengrab wechselt dafür mal eben das Genre und wird zur klugen Rezension, die Umberto Ecos Suche nach der perfekten Sprache und Clemens Setz’ Die Bienen und das Unsichtbare referiert.


Der Roman und seine Hero:inen sind nicht nur belesen, sondern das Buch ist auch ungemein witzig. Anne Storch bleibt jedes Mal die Würde selbst, wenn ihr Text auf ,Süthessich’ brabbelt, sie ist geradezu eine Loriot:


Siggi, du hast mer doch neulisch so ein krünen Tee gemacht gehapt.
Schee weise Pluse hast du heut an.
In der Nacht hats da wo der Zieschel jetz fott is ganz chlimm reingereknet.
Ei noja.
Isch nehm jetz Trogen (87).


Am Ende taucht noch Bernd Koberstadt auf, eine Type und ein Name wie der alte Mitschüler, der ab der Mittelstufe kontinuierlich peinlicher wurde. Dabei ist der erwachsene Bernd Koberstadt auch einer von den intellektuellen Relikten, den Theoriezuchten der Siebziger- und Achtzigerjahre, der in Ace Frehleys Spaceman-Antlitz eine über alle Maßen reizvolle Projektionsfläche für das Außenweltige und Außerirdische, das sprachlich nicht einfach Verfügbare sieht. Ace Frehley?


Kiss. Nicht der mit dem Kunstblut und der Zunge, nicht der Schwarzlockige mit dem Kussmund, nicht die Katzenschnute am Schlagzeug, sondern der Vierte und mit Abstand Interessanteste. Kiss wird von Bernd Koberstadt in den Wald bei Frankfurt verbracht, verwunschen ist es dort und deswegen ausweglos und fluchtwegversperrt für das hyperkommerzielle Maskenquartett. Anne Storch gelingt ein gradioser Starschnitt aus BRAVO-Spätkindheitserinnerungen und Frustration an der Sprache, manchmal auch Faszination an den sprachminimalistischen Awks des Ace Frehley, denen man und frau erst im Postpubertären, in der kritisch-theroetischen Sozialisation auf Schliche kommt.


Im Ziegelplattengrab bereitet nicht nur den theoretisch Hochfrisierten Leselust, sondern allen, die das Unbehagen an der verarmten, normierten, sich der Sprachlosigkeit asymptotisch annähernden Gegenwart kennen und teilen. Und Anne Storch ist ein wundersam’ Wesen, so viel Fantasie und schürfende Tiefe, so gut auf den Ausdrucks-Punkt gebracht.

Bruno Arich-Gerz



Anne Storch: Im Ziegelplattengrab, Weissmann Verlag 2024. 25,- Euro. ISBN 978-3-949168-11-6