Nachbefreiungs-Sorgen
Einen Roman zu retro-rezensieren, also aus einem jahrzehntelanges Danach zu besprechen, ist ungewöhnlich. Natürlich gibt es Klassiker, die mit dem Anspruch antreten, zeitenübergreifend relevante Themen aufzureißen und vermeintlich ein für alle Mal zu klären. Von der Kritik wird sowas betrieben als win-win zwischen besprochenem Oeuvre und Kritiker:in, der/die damit etwas für die eigene Publikationsliste tut.
Die longue durée der (meist) eurozentrisch ausgeguckten Wirkung von Lessing oder Goethe – Nathan der Weise und das Gemeinsame der Religionen; die faustische Hybris – wird ergänzt durch rezente Sujets, die weder den Ewige-Werte-Faktor mobilisieren können noch möchten. Oft sind sie eingepackt in Literaturen, die aus anderen als nordglobalen Gegenden stammen und von Dingen handeln, die aus Gründen der historisch-politischen Entwicklung, die eine dynamischere ist als bei uns konfliktverschonten Langzeitwertegläubigen, einen anderen Blick nötig machen: Wie sehr sind sie heute noch – oder nicht mehr – aktuell? Was bleibt bestehen an literarischem Mehrwert, der eine Neulektüre und Neuentdeckung verdient?
Harvest of Thorns des zimbabwischen Schriftstellers Shimmer Chinodya (Baobab Books, Harare) ist solch ein Stück Literatur. Der Roman erhielt den Commonwealth Literaturpreis für Afrika; 1991 erschien er in deutscher Übersetzung im Horlemann Verlag. Konzipiert und fertiggestellt wurde er zwischen 1984 und 1989, was für seine Lektüre aus dem Heute nicht unwichtig ist. Er handelt von den Befreiungskrieg-Erfahrungen eines jungen Zimbabwers in den späten 1970er Jahren, seinem coming of age in der kolonial-repressiven Atmosphäre des Ian Smith-Regimes und den Verwerfungen, die der Clash von indigen-afrikanischen und kolonial aufgezwungenen Werten und Idealen hervorruft.
Benjamin, ein Twen mit der Sozialisation eines Township-Bewohners und der Entscheidung, als guerillero für die Unabhängigkeit Zimbabwes zu kämpfen, kehrt zu Beginn der Handlung aus dem Befreiungskrieg zurück zu seiner Familie.
‚Dein Name?‘
‚Benjamin Tichafa.‘
‚Wie lautet dein Kriegsname?‘
‚Pasi NemaSellout.‘ (16)
‚Sellout‘ für ‚Verräter‘ an die weißen rhodesischen Streitkräfte, was es im zimbabwischen Liberation Struggle durchaus gegeben hat. NemaSellout heißt das Gegenteil: dass er nie zu einem Verräter an der Sache, ihren Institutionen und führenden Personen um Robert Mugabe werden würde. Eine schwangere Gefährtin bringt Benjamin mit heim und macht sich verdient um seinen beinamputierten Bruder Peter, für dessen Versehrung er Jahre zuvor verantwortlich war. Seine Mutter nimmt ihn auf, der Vater erscheint als das Gegenteil eines pater familias: ein verantwortungs- und gefühlsreduzierter Hallodri, der sich von den aus der Macht vertriebenen Weißen einen untauglichen Gebrauchtwagen andrehen lässt.
Nach überstandenem Krieg und der Unabhängigkeit Zimbabwes erscheinen die Nachbefreiungs-Sorgen als überwindbar. Alltag zieht ein. In der Erzählzeit von Dornenernte nimmt dessen Schilderung ein Viertel ein, höchstens. Eindrücklich sind die anderen drei Viertel: die durch Benjamin fokalisierten Geschehnisse als Teil einer Guerrilla-Einheit, die auf Unterstützung der Zivilbevölkerung angewiesen war und sie teils unter Zwang einforderte.
In den Jahren nach 1980 kam es zu einer Neuauflage des Themas der zwangsweisen Ausstattung von Buschkämpfern mit (über-)lebensnotwendigen Naturalien. Geändert hatten sich die Umstände, und verraten fühlten sich diejenigen, denen die erste unabhängige Regierung Zimbabwes vorwarf, den eingeschlagenen gemeinsamen Kurs zu unterminieren. 1982 entsandte Präsident Mugabe persönlich die sogenannte Fifth Brigade, um in den Nichthochburgen seiner ZANU/PF Partei – den von vor allem von der anderen großen zimbabwischen Ethnie, den Ndebele unterstützten ZAPU-Wähler:innen und ZIPRA-Kämpfern – eine heute im globalen Norden in Vergessenheit geratene Reihe von Massakern anzuzetteln: den Gukurahundi. Einer der Vorwürfe an die Ermordeten: Sie seien Sellouts gewesen, konterreaktionäre Milizen und zivile Handlanger im Dienst der ehemaligen weißen Machthaber, die nun nicht mehr Ian Smith anführte, sondern das weiß regierte Apartheid-Nachbarland Südafrika.
1983 und 1984 waren die Hochzeit dieser vollkommen entgrenzten Gewaltverbrechen, 20.000 Todesopfer forderten sie.
Davon ist nicht mehr die Rede in Shimmer Chinodyas Roman, der – dies zur Verteidigung des Buchs und seines Autoren – im Original 1989 erschien und die Perspektive eines ausdrücklichen Nicht-Ndebele einnimmt. Chinodya entstammt der majoritären Ethnie der Shona.
Dornenernte ist ein spannendes und aus heutiger Sicht packendes, zugleich angesichts der Gewaltverbrechen der vom Befreiungskampf zu Recht an die Macht Gebrachten kontroverses Stück Literatur. Shimmer Chinodya hat es aus dem Empfinden (s)einer Zeitgenossenschaft heraus verfasst, zu denen heute eine Anerkennung der Nachwirkungen und Folgen der Massaker und Gewaltverbrechen gehört. Bislang stößt das im offiziellen Zimbabwe auf taube Ohren.
Bruno Arich-Gerz
Shimmer Chinodya: Harvest of Thorns. Deutsch: Dornenernte, übersetzt von Beate Horlemann, Unkel/Bad Honnef: Horlemann 1991