10. April 2021

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Blogs, Games, Filme, Unikultur. Oder -unkultur. Pola Oloixaracs Erstlingswerk, der Roman Wilde Theorien wirkt zunächst „harmlos“, ein bisschen Akademiesprech hier, ein wenig Collage da, ein Stückweit poststrukturalistische Anthropologie, dann eine Erzählung, die abgebrochen wird, dann geht es von vorn los, plötzlich Hälfte des Buchs & es geht gefühlt schon wieder von vorn los. Womit hat man es hier zu tun? Wohin zielt die Autorin?


Ausgangspunkt ist die argentinische Universitätslandschaft der Nullerjahre, die jedoch, folgt man den Schwingungen, auch die des vorigen Jahrhunderts ist & die des künftigen Jahrhunderts womöglich sein wird: eingespielt, bewusst unbewusst konstruiert, heteronormativ verbaut, ohne wirklichen Drang zur Fortentwicklung, geschweige denn Neugier, noch weniger Gleichberechtigung irgendeiner Ecke, noch Machtverzicht. Oder wie der Professor Augusto García Roxler der Studentin-Erzählerin auf Nachfrage auf die Nase zu binden meint: „Ich bezweifle sehr, mein Fräulein, dass mich die Energie Ihrer Adjektivierung im Zusammenhang mit meiner Arbeit interessiert.“


Das ist zwar inmitten der Satire um wilde Theorien, die in Wirklichkeit grenzenlose Praxis ist, auch immer ein bisschen komisch & auf nämlichen Effekt aus von Oloixarac erzählt, doch trifft es einen Kern universitäts-systemischer Nachwuchszucht. Oloixarac nimmt die globale Verhornung, taub jedweder Kritik, auf experimentelle Weise ins literarische Visier. Was zu herben Kontroversen um den Roman besonders in Argentinien aus genau jener von der Autorin aufs Korn genommenen Sippe Professorenschaft, Kritik und ihrer Zubringer und Dranglauber geführt hat und führt. (Zwei Links: 1, 2)


Sprüche beleidigter Männer füllen das Buch an: [Collazo urteilt über sie] „Du bist nicht besser als wir, nur weil du dich in nichts verrannt hast. Dir dringt der Hochmut aus allen Poren. Du hättest damals alles dafür getan, selber eine kleine Evita zu sein, eine Montonera.“


Schichten von Wut, Comic-hafte Sehnsuchtsimages setzt Oloixarac dagegen: „Sie steht auf einer Terrasse, über dem Großraum Buenos Aires geht die Sonne auf; der „Wind“-Effekt lässt ihr Nachthemd flattern, das viel zu groß ist für ihren zierlichen Körper. Die Frau hängt sich ein Maschinengewehr um und ballert von der Terrasse herunter. Unten drängen sich zwanzig Polizisten der Gendarmería zusammen und beginnen ihrerseits zu ballern. Von oben ertönt das Gelächter der Frau.“


Und doch ist Wilde Theorien nicht so simpel konträr zueinander gebaut, sondern mäandert vielmehr durch ein schwer zu durchdringendes (und schwer zu lesendes) abrupt wechselndes Geflecht von Stimmen, Perspektiven, Theorien (im Fokus die „Van Vlietsche Theorie der Egoischen Übertragungen“, einer Gewalt=Mensch Hypothese). Der Erzählfluss gerät häufig ins Nirgendwo, bricht ab oder um durch mehrmaliges Fallen in ein Coming-of-age-Erzählen, den Geschichten um die beiden kryptischen Blog-Aficionadx die kleine Kamtchovsky und ihr Freund Pabst, geisterhaft im Palermo Buenos Aires unterwegs, oder er landet in stickigen Romanzimmern durch das Vortäuschen von akademischer Tiefe mittels Imitation der Sprechweisen, des Tratsches, der Faktenmontage.


Ein seltsamer Teppich ist Wilde Theorien, überdies gemustert mit politischen Subtexten aus der bewegten argentinischen Geschichte der letzten 50 Jahre, oft nur durch beiläufige detaillierte Einschübe hinein gemogelt. Weniger durch gestaltete Erzählsituationen wird ein Faden aufgebaut, allen Charakteren haftet etwas Bleiernes an, man fiebert nicht gerade mit, sondern die Strategie besteht darin, durch Aufnehmen, Färben & Überfärben einen atmosphärischen Realitätsremix zu erschaffen. Hier wohnt kein Narrativ mehr. Oloixarac verweigert sich einer literarischen Klassik. Jene Welt, die sie beschreibt, hat sich längst verweigert – unterm Deckmantel ihrer Offenheit. Oder wie es im Buch heißt: „Das Nebeneinander der Fakten verdichtete sich zu einer räumlichen Syntax“. Erst im allerletzen Kapitel gibt sich der kluge Roman zu erkennen, lässt ein wenig sein experimentelles Konzept durchscheinen durch wiederum gelistetes Fremdmaterial: „[er] sagt den berühmten Satz: Ein seltsames Spiel, Dr. Falken. Der einzige gewinnbringende Zug ist, nicht zu spielen.“ Und weiter: „Dies hier war die zyklische Rohmasse eines Landes, in dem die Tatsachen sich einfach ergaben und dann um sich selbst kreisen, in dem sie einfach existierten, ohne sich ihrer selbst bewusst zu werden.“


Fordernd, wirsch & provozierend ungestalt, Wilde Theorien ist ein Roman wider die Vereinnahmung. Er spielt das Spiel nicht mit. Das Original erschien bereits 2008, nun von Matthias Strobl ins Deutsche übertragen bei Wagenbach. Zuvor wurde im selben Verlag bereits der Roman Kryptozän, eigentlich der Nachfolger, von Pola Oloixarac herausgebracht. Die Veröffentlichung von Wilde Theorien kommt nicht zu spät, obwohl cybermäßig etwas in die Jahre geraten. Der experimentelle Charakter des Werks hat sich hingegen kein bisschen abgenutzt, ganz zu schweigen von seinen politischen Implikationen.

Jonis Hartmann

 

Pola Oloixarac: Wilde Theorien. Wagenbach Berlin 2021


https://www.wagenbach.de/buecher/titel/1268-wilde-theorien.html