8. Februar 2021

Ich bin nicht introspektiv

 


„Die Kunst ist das Sinnesorgan der Gesellschaft“, dies und 99 weitere kurze Brocken aus der umfangreichen Schriftenreihe von Vilém Flusser präsentiert der kleine handliche Band aus der edition flusser Einhundert Zitate, vor Kurzem erschienen. Eine so hervorragende wie disparate Einführung in das verstreute Werk dieses rastlosen („bodenlosen“) Charismatikers, dessen extreme Widersprüche klaffen und inspirieren – auch bald 30 Jahre nach seinem Tod. Flusser war vielleicht derjenige Denker, der am prägnantesten das Philosophieren als Kunst auszuüben vermochte, der sich nie in irgendeiner Weise vereinnahmen ließ, am allerwenigsten von Akademie, Wissenschaft oder Nationalität, Sprache oder sogenannter Herkunft.
Die vorliegende Auswahl von aus dem Zusammenhang gerissenen „Sprüchen“ ist gut, gerade weil die Zitate aus ihrem Zusammenhang gerissen sind und so das befreite Leserauge finden, es blitzartig treffen. Zwar lässt sich ein gewisser Kulturpessimismus, eine konservative Kritizität an der medialen Wende bei Flusser nicht verleugnen und nur zu gern würde man wissen, was dieser Prophet von Soft- und Hardware angesichts der sich überschlagenden Entwicklung derselben heute denken würde über die Verlegung des virtuellen Horizonts etc., dessen Werkzeugcharakter Flusser nicht andeutungsweise implizieren will. Dagegen bedient er sich lieber der sprachlichen Realitäten, der etymologischen Verhandlung von Argumentation, in wissenschaftlichen Feldern: „Wahrscheinlichkeit ist eine Chimäre, ihr Kopf ist wahr, ihr Schwanz scheinlich.“
Die Zitate streifen so unterschiedliche Bereiche wie Kunst, Positionen wider den Nationalismus, Apparate, Mehrdeutigkeit, Spiritualität, Schreiben, Nomadität, (Gender/-rollen fehlen gänzlich). Flusser schreibt sich zum undogmatischen Anwaltdasein eines Pluriversums, der alles Systemische als faschistisch in der Anlage ablehnt. In der Einführung der Herausgeber Rainer Guldin und Andreas Müller-Pohle wird erwähnt, wie Flusser selbst sich seine Position zuschrieb (und ausfüllte): „der wahre Intellektuelle als eine impertinente Mücke, die durch ihr penetrantes Gesumme die Gesellschaft daran hindert, vor sich hin zu dösen. Wenn sie endlich aufhört, sich in der Luft zu drehen, sticht sie plötzlich hinterlistig zu, um ihre Opfer mit ihrem Gift zu infizieren.“
Ein Doodle der Positionen ist dieses Bändchen. „Alle Mediationen haben eine sogenannte innere Dialektik. Wenn ein Bild eine Landschaft vorstellt, dann stellt es sich auch davor.“


Jonis Hartmann

 

Vilém Flusser: Einhundert Zitate, edition flusser 2020

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