12. August 2017

Von Hofnarren und Nullen

 

Larvatus prodeo (II)

 

In einem Brief vom 4. Juli 1877 an den Musiker Carl Fuchs entschuldigt sich Friedrich Nietzsche für das eine oder andere harte Wort, das an jenen ergangen war; zugleich teilt er ihm mit, dass er, Nietzsche, sagte, wie er empfand: "In solchen Dingen halte ich an dem amerikanischen Sprüchworte fest 'Ehrlichkeit ist die beste Politik.'" Ob das Diplomaten auch so sehen, sei dahingestellt, Tatsache ist, dass das transatlantische Proverb sich bestens mit Nietzsches Perspektivismus verträgt, denn Ehrlichkeit ist nur eine sehr subjektive Wahrheit, die für andere skandalös sein kann. Nietzsche hat aus dieser Ehrlichkeit einen regelrechten Kult gemacht. Das entsprechende Programm, das man seinen Schriften entnehmen kann, ist so herausfordernd wie anspruchsvoll. Die "Ehrlichkeit" seiner Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie machte ihn als Philologen unmöglich. Das Phänomen der Zumutung und Zumutbarkeit war ihm also nur zu bekannt. Dass "es" auch seinen von ihm verehrten Lehrer Friedrich Ritschl traf, musste er in Kauf nehmen. Es gibt aber auch einen Nietzsche der distanzierten Betrachtung, der Zusammenfassung, der Beobachtung von einem scheinbar neutralen Punkte aus. Es sind Texte, die auf Zustimmung bauen, die Plausibilitäten mit sich führen, gegen die sich Nietzsche in anderen Zusammenhängen wiederum als Plausibilitäten verwahrt ("Das Plausible lügt am feinsten.").

Ein solcher Text vermeintlicher hermeneutischer Eindeutigkeit findet sich etwa in der Morgenröte unter dem Titel 'Wem ein Hofnarr nötig ist'. Die Hofnarren, das waren in absolutistischen Zeiten die Spaßmacher, aber auch die, denen es als einzigen erlaubt war, dem Herrscher gegenüber die Wahrheit zu sagen, und zwar durchaus im emphatischen Sinn und nicht als bloße Meinung einer Stimme aus dem Amüsierzoo. Aber letztlich ging es am Hof nicht um Erlaubnis, sondern um etwas anderes. Denn, so auch Nietzsche, niemand wagte es, die Wahrheit zu sagen, "die volle und gemeine". Nietzsche stellt aber keine historische Betrachtung an, sondern erweitert die Klientel, er spricht auch, neben den "sehr Mächtigen", von den "sehr Schönen" und den "sehr Guten". Die Kommunikation mit diesen so bestimmten Top-Adressen führe zu Einschränkungen, Zurückhaltungen und werde "in der Form einer Anpassung" vorgebracht. Der Grund für diese Larvierung derjenigen, die ja noch nicht einmal Bittsteller sein müssen, ist nach Nietzsche ein ganz einfacher, aber fundamentaler und in diesem Sinne auch nicht verhandelbarer: Man lüge in Gegenwart dieser Leute "unwillkürlich ein wenig, weil man ihre Wirkungen empfindet". Das ist eine sehr einfache, aber sehr luzide Rezeptionstheorie. Es geht also gar nicht um bestimmte Bereiche, Themen, Sachgebiete, bei denen Vorsicht geboten ist, sondern um die Feststellung, dass man sich im Ausstrahlungsbereich eines energetischen Zentrums welcher Couleur auch immer (reich, schön etc.) anders verhält als gegenüber einem neutralen oder neutralisierten Vertreter des menschlichen Geschlechts. (Das ja auch sehr einfache, aber deshalb nicht schon elegante Sender-Empfänger-Modell ist in dieser Hinsicht nicht hilfreich.) Die Pointe dieser absolut nachvollziehbaren Theorie der einseitigen Ausstrahlung ist, dass beide Seiten darüber Bescheid wissen. Denn: Es ist einfach so. Und da die Anpassung an die Maske nicht rückgängig gemacht werden kann, ist die einzige Position, die in diesem Energiefeld lavieren kann, die des Narren oder Verrückten. "Wollen Menschen der Art [also die sehr Schönen etc.] trotz alledem und durchaus die Wahrheit hören, so müssen sie sich ihren Hofnarren halten – ein Wesen mit dem Vorrechte des Verückten, sich nicht anpassen zu können." Ob dieser voluntative Akt auf Seiten der Top-Adresse ausreicht, um Wahrheit zu garantieren? Oder anders: Lügen wir nicht ganz gerne ein wenig, auch wenn wir unter unseresgleichen sind?

Was heute die Hauptaufgabe von Bundespräsidenten ist, also von politischen Nicht-Herrschern, war früher die Hauptaufgabe von Fürsten, also politischen Herrschern, nämlich zu repräsentieren. Repräsentation als Dauermodus. Der Fürst hatte nicht als Person, sondern als Rolle zu interessieren. Die mögliche Aura war dem Zinnober, nicht dem Charakter geschuldet. Wenn Nietzsche den Fürsten in einem anderen Aphorismus ('Nicht Symbol sein wollen') gar nicht in seiner (absolutistischen) politischen Funktion zu kritisieren gedenkt, sondern ihn als unverrückbares Element in dem barocken Staatswesen "beklagt", so ist darin durchaus eine kleine Bosheit zu sehen: "Ich beklage die Fürsten: es ist ihnen nicht erlaubt, sich zeitweilig im Verkehr zu annulieren, und so lernen sie die Menschen nur aus einer unbequemen Lage und Verstellung kennen; der fortwährende Zwang, etwas zu bedeuten, macht sie zuletzt tatsächlich zu feierlichen Nullen." Der Kaiser kann gar keine neuen Kleider tragen, und wenn, ist er kein Kaiser mehr.

Ein nicht geringer Teil der philosophischen Betrachtungen Nietzsches ist der Maske, dem Korsett, der Erstarrung und ihren Überwindungen, und sei es nur im kleinsten Kreise, gewidmet. Diese Untersuchungen führen oftmals erstaunliche, aber von dieser Perspektive aus betrachtet konsequente sprachliche Formulierungen mit sich, die bewusst anti-platonisch und anti-christlich sind. In dem ebenfalls in der Morgenröte veröffentlichten Aphorismus 'Der Böse' nimmt Nietzsche eine Fehde zwischen Diderot und Rousseau zum Anlass, über den Status des Bösen im Verhältnis zu einer "Gesellschaft" nachzudenken. Als guter Paranoiker konnte Rousseau gar nicht anders, als Diderots Spruch: '"Nur der Einsame ist böse!"' auf sich zu beziehen und sich, wie Nietzsche urteilt, "tötlich verletzt" zu fühlen. Dem Pariser Salonleben konnte der Genfer Philosoph nicht so viel abgewinnen, aber war er deshalb böse, wenn er sich in die Einsamkeit zurückzog? Nietzsche generalisiert sofort, wenn er schreibt: "In der Tat hat jeder böse Hang inmitten der Gesellschaft so viel Zwang sich anzutun, so viel Larven vorzunehmen, so oft sich selbst in das Prokrustes-Bett der Tugend zu legen, daß man recht wohl von einem Märtyrertum des Bösen reden könnte." Das hört sich dramatisch an, aber vielleicht liegt das nur daran, dass hier zwei Begriffe des Bösen zusammengeführt werden. Nietzsche spricht nicht notwendig von einem, der Böses im Schilde führt, also von einem Bösewicht. Der Rahmen, innerhalb dessen das "Böse" zu unterdrücken ist, ist ein konversationeller. Die eigene Meinung interessiert hier nicht in erster Linie. Jeder ist dazu angehalten, an dem Gesamtgespinst "Gespräch" teilzunehmen. Und ein Spielverderber wird wohl demnächst keine Einladung in den Salon erhalten. So viel Prokrustes muss sein. Das Böse, an dem Nietzsche liegt, hat aber gerade mit dem Ego zu tun, das sich grausam die Kanten abschleifen muss, um gesellschaftskompatibel zu sein. Das entwickelte Böse ist dann bloß der Effekt, sich aus der Gesellschaft herauskatapultiert zu haben. So gesehen ist die Einsamkeit der adäquate Raum des Bösen, der nur hier sich keinen Zwang anlegen muss. Er ist aber auch denkbar weit entfernt von der "Gesellschaft", der er Böses antun könnte. Und mit dem Prokrustesbett entfällt auch das Martyrium, und in dieser separatistischen Wende vollzieht sich nun ein bemerkenswertes ästhetisches Schauspiel: "Wer böse ist, ist es am meisten in der Einsamkeit: auch am besten – und folglich für das Auge dessen, der überall nur ein Schauspiel sieht, auch am schönsten." Und so folgen wir den Träumereien eines einsamen Spaziergängers, der Morgenröte eines anderen einsamen Spaziergängers und fragen uns, was denn unsere Einsamkeit sein könnte.

Nicht jede Verstellung ist mit bösen Absichten verbunden. Wäre das so, gäbe es keine Metaphysik der Liebe. Die Liebe als runde Sache, so wie sie uns Plato im Symposion vorstellt. Und weil die Sache plötzlich nicht mehr rund war, musste man versuchen, sie wieder rund zu machen, und da kommt die Verstellung ins Spiel. Wie können zwei Verschiedenheiten zusammenpassen? Zum Beispiel durch Mimikry. Eine kurze, zweistufige Betrachtung widmet Friedrich Nietzsche, erneut in der Morgenröte, diesem Phänomen der amourösen Adaptation unter dem Titel '"Die Liebe macht gleich."' Das als Zitat gekennzeichnete Lemma macht darauf aufmerksam, dass sich der Autor dieses "Wunder" nicht zu eigen macht. Er analysiert es knapp und markant. Es sei ein ökonomischer Zug, der die Liebe kennzeichne. Aber nicht im Sinne von Mitgift oder gesellschaftlichem Aufstieg, der mit einer liaison verbunden sei. Das muss zwar nicht ausgeschlossen werden, aber die entscheidende Phase liegt davor und ist psychologischer Natur. Die Motivation ist folgende: "Die Liebe will dem anderen, dem sie sich weiht, jedes Gefühl von Fremdsein ersparen, sie ist folglich voller Verstellung und Anähnlichung, sie betrügt fortwährend und schauspielert eine Gleichheit, die es in Wahrheit nicht gibt." Das ist die erste Stufe der "Beziehung". Es reicht, wenn sich einer (oder eine) so ins Zeug wirft. Wenn diese Person liebt, so geht es die andere unbedingt an, der Goethesche Coolheitsfaktor ist hier definitiv ausgeschlossen. Man könnte auch sagen: Diese Person "gibt, was sie nicht hat". Sie ist extrem stark dem Imaginären verhaftet, das strukturell ganz auf Reziprozität setzt. Man kann auch sagen, dass sich die liebende Person tendenziell aufhebt und verschwindet, nämlich als die Person, die sie davor war. Ist es eine Überraschung, dass diese Position des (zuerst) Liebenden vor allem der Frau zugeschrieben wird? Die folgenreichen Emanzipationsbewegungen der Frau, die auch das Liebeskonzept verändern, stehen erst noch bevor (1880). Es sei also die Frau, die behaupte, dass die Liebe gleich mache. Dem liberalen Modell der Ökonomie des Mannes (Kapitalisierung des Ego) steht die Ökonomie der Frau in eroticis gegenüber, die, beinahe aus Mitleid, dem Geliebten die phänomenologische Andersheit ersparen möchte und primär durch Vernichtung glänzt. Während der eine akkumuliert, kratzt die andere fortwährend am Bild ihrer selbst. Der eine kann also so weitermachen wie bisher, die andere kann am Ende behaupten, sich selbst im anderen gefunden zu haben. Wie aufwendig die Prozeduren der Verstellung und "Anähnlichung" auch sein mögen – Nietzsche spricht hier von einem einfachen Vorgang. Etwas anderes ist es, wenn der Vorgang sich komplett romantisiert und die Vorbilder eine Eigenlogik entwickeln. Es ist eine erotische Reise ins Bodenlose: "... aber nichts Verwickelteres und Undurchdringbareres von Schauspielerei gibt es, als wenn beide in der vollen Leidenschaft füreinander sind, und folglich jeder sich aufgibt und sich dem anderen gleichstellen und ihm allein gleichmachen will: und keiner zuletzt mehr weiß, was er nachahmen, wozu er sich verstellen, als was er sich geben soll." Wie kommt man da wieder raus? Kommt man wieder raus? Will man das überhaupt? Der Psychologe Nietzsche jedenfalls streckt hier die Waffen der Beschreibung, was könnte ein Außenstehender auch hier festhalten wollen? Zuletzt heißt es: "Die schöne Tollheit dieses Schauspiels ist zu gut für diese Welt und zu fein für menschliche Augen."

Dieter Wenk (7-17)

Literatur:

Friedrich Nietzsche, Morgenröte, in: F.N., Werke in sechs Bänden, Zweiter Band, S. 1009-1279, hrsg. von Karl Schlechta, München – Wien 1980 (Carl Hanser Verlag), nach der 5. Auflage 1966; vgl. die Aphorismen mit den Nummer 451, 499, 526, 532