23. Juli 2017

Die Vernichtung der "Welt"

Larvatus prodeo (I)

 

Man sieht ihnen ihren Reichtum, ihr Alter, manchmal auch ihre Jugend nicht an. Sie ziehen es vor, nicht als das zu erscheinen, was oder wer sie sind. Es ist ein Auftritt mit Vorbehalt, aus welchen Gründen auch immer. Diese Leute würden vor der legendären Gestalt des Momos keine Gnade finden, der dafür pladierte, dass die Menschen mit einem Gitter in der Brust geschaffen werden, damit man immer schauen könne, ob sie nicht etwas im Herzen verbergen. Transparente Verhältnisse also auch und gerade im privaten Bereich. Aber was ist schon nur privat, was nur öffentlich? Der Wagner-Exeget Friedrich Nietzsche förderte in seiner vierten Unzeitgemäßen Betrachtung zutage, was wohl selbst Wagner unbekannt war. Und selbst was heute eher spekulativ anmutet, von dem Nietzsche annehmen durfte, dass er es hinter Gittern erkannte, nämlich das musikalische Genie und die wahre Künstlerpersönlichkeit, ist unter psychoanalytischen Voraussetzungen zum Gemeinplatz geworden und gilt auch für bloße Personen mit ihren inwendigen Labyrinthen. Nicht jeder will sich aber einer solchen Operation der Durchleuchtung und Durchdringung aussetzen oder ausgesetzt sehen. Scham mag eine Rolle spielen, Eigeninteresse, Furcht oder überhaupt das Gefühl, mit einemmal ohne Rückzugsort dazustehen.

Um andere erst gar nicht dazu einzuladen oder zu ermuntern, diesen Ort auszuleuchten, mag die cartesische Handlungsmaxime "larvatus prodeo" (ich trete maskiert auf) aufgestellt worden sein. Descartes hielt sie 1619 als private Notiz fest, Dritten empfiehlt sie sich gewissermaßen erst post mortem, dann nämlich, wenn nach Bekanntgabe dieses Unterschieds zwischen Geben und Verbergen die Frage aufgeworfen werden kann, wo die Maske anfängt und wo sie aufhört. Und los geht es mit der Spekulation. Obwohl selbst kein Bürger, wurden Descartes immer wieder gerne bürgerliche oder gar spießbürgerliche Verhaltensweisen vorgeworfen wie das (behagliche!) Philosophieren vor brennendem Kamin oder das entschiedene Bekenntnis zu Ruhe und Abgeschlossenheit. Die Devise, die er 1634 seinem Pariser Freund Marin Mersenne brieflich mitteilt, mag das bestätigen: bene vixit, qui bene latuit (zu deutsch etwa: gut hat gelebt, wer sich gut verborgen hielt). Warum aber diese Flucht vor der Öffentlichkeit, warum diese Abseitigkeit (auch durch häufiges Umziehen), die eines hlg. Bruno Wert ist? Der Begründer der Kartäuserordens hatte für seine Ordensschüler die Devise ausgegeben: fuge, late, tace, also: Flieh, verbirg dich, schweig. Das "Gesetz des Vergessens" setzt auch Descartes um, aber die Gründe waren doch ganz andere als die des Bruno. Descartes ist postum berühmt geworden für seinen methodischen Zweifel, aber er wäre zu Lebzeiten eine vielleicht noch viel größere Skandalfigur (in den Augen der Kirche) als Galilei geworden, wenn er den Mut oder die Unverfrorenheit gehabt hätte, sein in den späten 1620er und frühen 1630er Jahren erarbeitetes Werk mit dem Arbeitstitel Le Monde zu veröffentlichen, "nicht weniger als eine komplette Erklärung des Kosmos, der Erde und des biologischen Lebens. In Entstehung und Bewegung nach mechanischen Prinzipien." Im Sommer 1633, als das Werk fertig ist und Descartes Korrekturen liest, erfährt er, dass Galilei in Schwierigkeiten ist. Bereits 1632 war dessen Werk Dialog über die beiden wichtigsten Weltsysteme von Papst Urban VIII. verboten worden, im Juni 1633 muss Galilei öffentlich der Kopernikanischen Lehre (der Bewegung der Erde) abschwören. Descartes, als Anhänger des Kopernikus, steht vor der Wahl: entweder den Clinch mit der Kirche suchen und wertvolle Zeit verlieren, oder nicht veröffentlichen und die Dinge beim Alten belassen.

Die Welt hat dieses Werk des Cartesius niemals kennengelernt. Es ist verschollen oder gar von ihm selbst vernichtet worden. In den Briefen an Mersenne wirkt Descartes alles andere als verzweifelt über die Konsequenz: Ende 1633 schreibt er: "Da ich aber für nichts in der Welt möchte, daß eine Abhandlung von mir herauskäme, in der sich das geringste Wort befindet, das von der Kirche mißbilligt werden würde, ziehe ich es vor, sie eher zu unterdrücken, als verstümmelt erscheinen zu lassen." Descartes' Rationalismus ging nicht so weit, dass er glaubte, sich vom transzendenten Überbau verabschieden zu können. An Gott und dem fundamentum inconcussum kam auch er nicht vorbei. Auch wenn er selbst an die Unfehlbarkeit der Kirche glaubte, ist sein Philosophieren doch kein christlich fundiertes mehr. Die Trinität findet man in seinen Schriften vergeblich. Zuletzt, d.h. ein halbes Jahr später, im April 1634, scheint Descartes eine lockere, um nicht zu sagen "coole", Einstellung gegenüber seiner Entscheidung, nicht publiziert zu haben, gefunden zu haben, Mersenne schreibt er: "Ich bin aber gar nicht so verliebt in meine Gedanken (...); und bei meinem Wunsche, in Ruhe zu leben und das von mir begonnene Leben fortzusetzen, indem ich als Devise nahm: bene vixit, bene qui latuit, ist es mir lieber, von Furcht befreit zu sein, als mit Hilfe meiner Schriften mehr Bekanntschaften zu erwerben, als ich wünsche, so daß es mir nicht leid tut, die auf Abfassung verwandte Zeit und Mühe verloren zu haben." Aber ganz kann Descartes das Publizieren nicht unterdrücken, und natürlich, die "Bekanntschaften" ließen nicht lange auf sich warten, und nicht nur die Katholiken, auch die Calvinisten werfen ihm Häresie vor. Schließlich geht er nach Stockholm und unterrichtet die Königin Christine von Schweden, die ihn unterstützt. Aber die Behaglichkeit ist dahin, er muss um fünf Uhr morgens zum Unterrichten erscheinen, davor durch die Kälte zum Schloss... Er stirbt sehr bald an einer Lungenentzündung.

Dieter Wenk (7-17)

Literatur:

René Descartes: Ausgewählte Schriften, aus dem Französischen und Lateinischen übersetzt von Arthur Buchenau (Werke) und Fritz Baumgart (Briefe), hrsg. von Gerd Irrlitz, Leipzig 1980 (Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig)