22. Juni 2017

Rechts, Links & Co. (3)

 

Eine Sitzordnung und ihre Folgen

 

Das Schema von links und rechts als sich durch die jüngere Geschichte durchziehendes Schema erfährt durch seine eigenen Begriffe einen ihm selbst entsprechenden Niederschlag: Schon mehrere Generationen wird es in Anschlag gebracht und im Laufe des Gebrauchs erfährt es immer neue Interpretationen. Das kann man dann die Eleganz von Schemata nennen, wenn sie es denn aushalten, dass man sich auch in neuen Zusammenhängen auf sie beruft. Immer wieder sind Zweifel an der Ergiebigkeit dieses Schemas formuliert worden, aber noch nie ist es auf dem Müllhaufen der Begriffsgeschichte gelandet, und sei es nur, um es von dort wiederzuholen. Die Zweifel beziehen sich vielleicht nicht in erster Linie auf die Instanzen des Schemas selbst, also links und rechts, als auf das, was dem formalen Schema als Interpretantenkonvolut beigegeben wird: Auf der rechten Seite findet man in der Regel Begriffe wie konservativ, traditionalistisch, national, autoritär, reaktionär, kirchennah, provinziell, auf der linke Seite solche wie fortschrittlich, revolutionär, international, liberal, zukunftsoffen, kirchenfremd, urban. Zweifel melden sich schnell: Abgesehen davon, dass auch Begriffe eine Geschichte haben, kann es passieren, dass man sich auf beiden Seiten heimisch weiß oder die Gegensätze nicht strikt versteht. Es soll Leute geben, die sich sowohl auf dem Land als auch in der Stadt wohl fühlen. Die gerne wegfahren, aber gerne auch wieder zurückkommen. Die den Begriff der Kirche eher weit auslegen, sodass das Glaubensepitheton sich auch auf nicht religiöse Bereiche beziehen ließe. Dann wiederum gibt es Zeiten, in denen das Schema eher spielerisch behandelt und solche, in denen es zur existenziellen Selbstverständigung genutzt wird.

Vor gut 70 Jahren, ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs, versuchte der "Linkskatholik" /1/ Walter Dirks (1901–1991), Mitbegründer der Frankfurter Hefte, sich seinen Reim auf "diese beiden sonderbaren Bezeichnungen" zu machen. Sein Aufsatz "Rechts und links" erschien im September 1946 im sechsten Heft der oben genannten Zeitschrift. Er setzt mit einigen scheinbaren Paradoxa ein. So heißt es etwa: "Oder da sind die Kommunisten. Keiner vertritt so laut wie sie die nationale Sache und die Sache der starken Staatsführung; diese beiden Anliegen aber gelten von jeher als Kennzeichen der Rechten. Steht die KPD etwa auf der äußersten Rechten?" Natürlich nicht, aber immer wieder fällt auf, dass sich politische Extreme berühren. Dafür hat man im 20 Jahrhundert eigens eine Theorie konzipiert, die Totalitarismustheorie, aber das ist 1946 noch Zukunftsmusik. Dirks macht zunächst aufmerksam auf die Herkunft des politischen Sprachgebrauchs. Von der Sache her entsteht der Gegensatz mit der Französischen Revolution, vom Vokabular her von einer bestimmten politischen Sitzordnung. Dem Lexikon habe er entnehmen können, dass "in der französischen Kammer der Restaurationszeit im Parlament die Liberalen links und die Konservativen rechts vom Präsidenten saßen". Man fühlt sich erinnert an die Sitzordnung im Konvent während der Französischen Revolution, wo der Grad der Radikalität der Einstellung sich vertikal bemerkbar machte: die "montagnards" waren die Radikalen, zu denen Marat zählte. Und doch scheinen nachträgliche Einsetzungen vorhergehenden Logiken zu folgen, so dass man sich die Dinge "danach" gar nicht mehr anders vorstellen kann. So liest man bei Dirks:

"Die Inhalte und Gesichtspunkte der Politik sind recht bunt und verschiedenartig, und doch: wie absolut einleuchtend war gleichwohl zum Beispiel die Reihenfolge der Parteien des Weimarer Reichstages: Kommunisten, Sozialdemokraten, Demokraten, Zentrum, Volkspartei, Deutschnationale, Nationalsozialisten. Es gab auch Gruppen, die nicht völlig eindeutig einzugliedern waren (so konnte man etwa im Zweifel sein, ob die Bayrische Volkspartei rechts oder links von der Deutschen Volkspartei stehe), aber selbst darüber schuf ein schlichter Tatbestand eindeutige Klarheit: die tatsächliche Sitzordnung."

Nur wenige Jahre später wird sich diese erstaunliche Korrespondenzlandschaft zwischen Wort und Sache eintrüben. Jedenfalls in Deutschland. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die "Rechte" "kompromittiert", und alle wollen plötzlich links sein, sogar die CDU. Und doch wird in einem neuen Parlament die CDU rechts von der SPD sitzen. Dirks nennt das humorvoll die "Tragikomik eines politischen Schemas". Aber noch befindet man sich auf der Wortseite der beiden Plaketten. Dirks will natürlich mehr als die intuitive Rechtfertigung einer ursprünglichen Kontingenz. Deshalb versucht er, den Worten Begriffe beizubringen. Rechts, darunter verstehe man gewöhnlich "konservativ", und eine linke Position sei eine "fortschrittliche". Jeder wird sich seine eigenen Paradigmata – den basalen Plaketten folgend – bilden. Dirks zitiert zwei kleine paradigmatische Reihen, die er in Joseph Conrads Mit den Augen des Westens formuliert findet: Der Student Rasumoff bietet folgende Gegensätze an: Tradition versus Theorie; Patriotismus versus Internationalismus; Evolution versus Revolution; Aufbau versus Zerstörung; Einigkeit versus Auflösung. Die jeweils links gesetzten Positionen sind ironischerweise "rechte" Positionen. Und doch: Es fiele leicht, die Bestimmungen auch auf die andere Seite zu beziehen: Einigkeit kennen auch die Arbeiter (Stichwort: Volksfront); der Sozialismus fällt nicht vom Himmel, sondern muss aufgebaut werden; er wird also entwickelt; Sozialismus gab und gibt es auch in einem Land; auch Sozialisten verwalten ein Erbe.

Aufgrund dieser prinzipiellen gegenseitigen Unterwanderbarkeit der jeweiligen Einsetzungen kommt Dirks erneut auf die ersten Einsetzungen "konservativ" und "fortschrittlich" zurück, um ihnen, vielleicht etwas pathetisch, die Begriffe "Gesetz" und "Freiheit" zu korrelieren. Stendhals bekanntesten Romantitel zitierend, schreibt Dirks: "'Rouge er Noir', 'Rot und 'Schwarz' ist insofern die zeitgeschichtliche Abwandlung eines ewigen Themas. Immer wird es die Hüter der Ordnung und des Gesetzes geben, die Menschen der Disziplin und des Dienstes, die autoritären Persönlichkeiten und ihre treuen Diener, immer auch die anderen, deren Lebensluft die Freiheit ist, die Emanzipierten, die Entflammten, die ewigen Empörer und Rebellen, die 'Nonkonformisten', 'Dissenters', 'Renitenten' und 'Protestanten' von Natur." Parteipolitisch lässt sich diese Aufteilung geradezu bequem ausbuchstabieren: Es gibt einfach Parteien, die sich mehr dem einen Lager zuordnen lassen und umgekehrt, auch wenn einzelne Politiker der jeweiligen Parteien auch gegensätzlich Positionen verlauten lassen: Das geschieht dann eben in einem bestimmten Rahmen, der eher rechts oder links eingefasst ist.

Ist das die Lösung? Nein. Denn ungeklärt wäre immer noch die unnachgiebige Zeitlogik des Schemas; es lässt sich nicht unbesehen durch die Geschichte ziehen. Es gibt fatale Seitenwechsel, und diese bringt Dirks mit einem historischen Begriff auf den Punkt: Ursache der Begriffsverwirrung von links und rechts sei die "große 'Phasenverschiebung'". Jeder, z. B. in einer Revolution vollzogene, Positionswechsel einer gesellschaftlichen Schicht oder Klasse führt zu Konsequenzen im Selbstverständnis. Der Hauptgegner von einst ist besiegt, neue Gegner werden sich formieren, die vermutlich von "unten" nachrücken. Die "linken" Bürger vor der Französischen Revolution sind andere als nach ihr. Aus dem Geburtsadel wird in Frankreich der (bürgerliche) Geldadel, der nun seinerseits bekämpft wird. An die besitzlosen Arbeitermassen geht im Laufe des 19. Jahrhunderts "sozusagen der geschichtliche Auftrag der Linken über." Der sich in Preußen formierende bürgerliche Nationalismus wird nunmehr als "rechts" empfunden.

Aber auch mit diesem, wenn man will: blanquistischen Sprachgebrauch (reich versus arm) gibt sich Dirks nicht zufrieden. Er dreht die Spirale weiter, versetzt sich in seine eigene Jetztzeit unmittelbar nach dem Krieg und überlegt, was passierte, wenn der Sozialismus, zu dem sich alle drei großen Parteien in ihren Programmen bekennten, als Sieger der Wahl hervorgehen würde. Müsste man nicht eine zweite Phasenverschiebung gewärtigen, müsste nicht der siegreiche Sozialismus das gleiche Schicksal zu befürchten haben wie seinerzeit das Bürgertum? Oder zumindest Teile des Sozialismus, also die CDU, die sich zwar selbst "links" sähe, aber doch die neue "Rechte" abgäbe, da nämlich ihr "christliches Anliegen die Person, ihre Selbständigkeit und Würde gegen jede kollektivistische, zentralistische, autoritäre, 'staatsomnipotente' Tendenz innerhalb des Sozialismus" vertreten und verteidigen würde? Das ist wie gesagt nur ein Planspiel, und doch liegt darin die ganze Problematik des "Linkskatholiken" Dirks, der sich fragen muss, wie eine christlich Partei, also eine generell "rechte" Partei, zugleich "links" sein könne. Es ist die Frage nach der Möglichkeit eines "Sozialismus aus christlicher Verantwortung", eines Sozialismus, den die Sozialisten links der CDU nicht durchgehen ließen, so offensichtlich wäre die Nachbarschaft und Traditionslinie zur "Reaktion" (Kirche). Für Dirks hingegen heißt es, sich parteipolitisch an einer Paradoxie abzuarbeiten: "So müßte denn also die CDU sich links entscheiden, um rechts werden zu können? So ist es, genau so. Entscheidet sie sich 'rechts', so marschiert sie in den Tod. Entscheidet sie sich links, so hat sie gute Aussicht, die neue deutsche Rechte zu werden." Dirks stellt sich die Frage, ob ein Christ überhaupt links sein könne. Wer als Linker die "unentwegte Linkshaltung" befürworte, die der Aufklärer und Fortschrittler, würde eine dezidiert unchristliche Haltung einnehmen. Andersherum gesagt: "Das Christentum ist nicht idealistisch, sondern weise; es glaubt nicht an ihren [der Aufklärer] Fortschritt. Insofern ist das Christentum rechts, und zwar nicht etwa nur zufällig, sondern wesentlich." Das ist aber nicht alles. Dirks macht sich für eine "christliche Linke" stark, nicht aus (abstrakter) Menschenliebe, sondern aus (konkreter) Nächstenliebe. Der christliche Linke würde nicht dialektisch, sondern triadisch argumentieren: Es gibt das Gute, das bleiben soll; es gibt das "als unabänderlich Erkannte", das bleiben muss (spätestens an diesem zweiten Punkt würde natürlich eine "linke" Linke ansetzen), und es soll das Neue geben, das "unerträgliche Spannungen" abbauen helfen könne. Der Christ wäre also in diesem dritten Segment links, im zweiten (aus linker Sicht) reaktionär, im ersten vielleicht naiv oder gläubig. Aber je nach Beobachterposition würde man hier zu anderen Termini kommen. Die christliche Linke wäre nur für sich selbst links, für andere (linke) Positionen nach wie vor rechts. Gegenüber dem Zyniker aber wiederum links, weil es eine "linke Liebespflicht" aufzubauen gelte gegenüber einer Haltung, für die eh alles zu spät ist. Zuletzt findet Dirks eine ungeschichtliche Formel für die anspruchsvolle Haltung, die er selber vertritt, nämlich katholisch zu sein und notwendend zu handeln: "es gilt die Tugenden der Rechten zu haben (Ehrfurcht, Disziplin, Treue...) und die Handlungen der Linken zu tun. Oder, noch kürzer: rechts sein und links handeln. Hier, nicht aber in einem Entgegenkommen auf halbem Wege oder in einem faulen Ausgleich, liegt die wahre Mitte." Hier ließe sich natürlich weiterfragen: Kann man auch links sein und rechts handeln, oder liegt hier eine substantielle Asymmetrie des Schemas vor?

/1/ Eine mögliche erste Orientierung zu dieser modernistischen bzw. reformkatholischen Position vgl. unter dem Lemma 'Modernismus': Philosophisches Wörterbuch, hg. von Georg Klaus und Manfred Buhr, 12. Auflage, Leipzig 1974 (Verlag Enzyklopädie Leipzig), Lizenzausgabe 1976 das europäische buch, literaturvertrieb gmbh westberlin, Band 2, Seite 813

Dieter Wenk (5-17)

Literatur: Walter Dirks, Rechts und Links, in: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik, hrsg von Eugen Kogon und Walter, Erster Jahrgang: Heft 6, S. 24-37