5. Juni 2017

Rechts, links & Co. (2)

 

Genealogie auf der rechten Spur

 

Friedrich Nietzsches Genealogien sind manchmal überraschend, aber meist nachvollziehbar. Gegen den Strich gebürstete Herleitungen von Gefühlen und Einstellungen finden sich nicht erst in seinem einschlägigen Zur Genealogie der Moral. Seine mit etwa 1400 Aphorismen umfangreichste Sprüche- und Kurzessaysammlung Menschliches, Allzumenschliches stellt in dieser Hinsicht eine konsequente Einübung in ein neues, abgeklärtes Sehen dar. Man findet von allem etwas, nur nicht in systematischer Art. Ein Kapitel heißt lapidar, ein wenig überfliegerhaft, 'Ein Blick auf den Staat'. Es ist der Blick keines Ökonomen, sondern eines Psychologen. Einer der Aphorismen aus diesem Kapitel trägt den Titel 'Der Sozialismus in Hinsicht auf seine Mittel'. Nietzsche setzt den hier nicht weiter ausdifferenzierten Sozialismus nicht in Gegensatz zum Despotismus, wie man zumal aus linker Perspektive erwarten würde, sondern erklärt ihn zu seinem "phantastische[n] jüngere[n] Bruder", der überdies beabsichtige, ihn, den Despotismus, zu "beerben". Man fände also auf der Seite des vermeintlichen Befreiers der Menschheit ebenfalls Phänomene wie Autorität, Terror, Unfreiheit? Noch mehr will vielleicht erstaunen, dass Nietzsche von einem "phantastischen" Bruder spricht, als ob er ihm auf der einen Seite die Großartigkeit zuerkennen würde, die er ihm im selben Moment schon wieder aberkennt, da der Sozialismus keine Chancen auf Verwirklichung habe.

Aber die Ironie des Autors kommt schnell zum Punkt. Der Sozialismus, ebenso wenig wie der Despotismus, ja noch weniger als dieser, liebe das Individuum, vielmehr strebe er "die förmliche Vernichtung des Individuums" an. Nietzsche spricht hier nicht von einem Zeitphänomen des 19. Jahrhunderts. Die unterstellte Verwandtschaft sei alt, der Sozialismus erscheine "immer in der Nähe aller exzessiven Machtentfaltungen, wie der alte typische Sozialist Plato am Hofe des sizilischen Tyrannen". (Nietzsche führt das nicht näher aus, aber er spielt wohl auch auf Platos Politeia an, in der postuliert wird, dass das "Wissen" nicht für alle sei: Das Volk muss betrogen werden.) Die Möglichkeit, dass der Sozialismus einen möglichen cäsarischen Staat seines Jahrhunderts beerben könne, sieht Nietzsche als gering an. Anders als dieser könne er nämlich nicht mehr auf "die alte religiöse Pietät gegen den Staat" rechnen (die wunderbare Wurzel aller konterrevolutionärer Überlegungen), sondern er müsse auch gegen die Pietät selbst vorgehen, da er alle bestehenden Staaten vernichten wolle. Das mache eben den Sozialismus zuletzt zu einem Phantasma, da er sich auf nichts mehr stützen könne, von dem man weiß, dass es zumindest, wie auch immer, funktioniert habe. Nur für kurze Zeit und mittels des äußersten Terrorismus ließe sich ein solches "Gebilde" realisieren, denn es folge keinem Bild, höchstens einem trockenem Konzept, mit dem man alles rechtfertigen könne: "Deshalb bereitet er [der Sozialismus] sich im stillen zu Schreckensherrschaften vor und treibt den halbgebildeten Massen das Wort 'Gerechtigkeit' wie einen Nagel in den Kopf, um sie ihres Verstandes völlig zu berauben (...) und ihnen für das böse Spiel, das sie spielen sollen, ein gutes Gewissen zu verschaffen." Für diesen antiindividualistischen Furor hat Nietzsche verschiedene Namen: "Gemeinwohl", Rousseau, Herde, Christentum, später: Tschandala-Moral.

Aber zuletzt findet Nietzsche, zumindest in dieser den freien Geistern gewidmeten Schrift, auch im phantastischen Sozialismus noch etwas Gutes. Eine einfache dialektische Übung komme ins Spiel (wenn er sie auch nicht so nennt): Wer so malträtiert werde vom Gerede des omnipotenten Staates ("so viel Staat wie möglich"), werde aus lauter Misstrauen einer anderen Stimme gewahr werden: "so wenig Staat wie möglich".

Und doch ist der Leser am Ende ratlos mit diesem seltsamen phantastischen Sozialismus. Man fragt sich, warum Nietzsche nicht die nachvollziehbaren Entstehungsbedingungen des wirklichen Sozialismus ins Auge gefasst habe. Sollte sich so viel Überfliegerei mit entsprechender Schrumpfung des "Objekts" nicht doch rächen in einem Zuwenig an Analyse? Die Genealogie bleibt auf der "rechten" Spur. Denn auch Nietzsches liberaler Hallraum ist gewiss nicht "links" konnotiert. Das emphatische nietzscheanische Individuum kann nicht links ticken. Aber auch nicht rechts: Wer so viel Tradition abbaut, ist weder konservativ noch reaktionär. Vielleicht ist es nur eine Geschmacksfrage, aus einem Weder-noch ein Sowohl-als auch zu machen. Nietzsche drückt die Zweifüßigkeit – nunmehr in einem Politik-kontextfreien Raum – so aus: "Es ist gut, eine Sache sofort doppelt auszudrücken und ihr einen rechten und einen linken Fuß zu geben. Auf einem Bein kann die Wahrheit zwar stehen; mit zweien aber wird sie gehen und herumkommen." Also spricht der 'Wanderer und sein Schatten'.

 

Dieter Wenk (5-17)

 

Literatur: Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: F.N., Werke in sechs Bänden, Zweiter Band, S. 435-1009, hrsg. von Karl Schlechta, München – Wien 1980 (Carl Hanser Verlag), nach der 5. Auflage 1966, Erster Band, Aphorismus-Nr. 473; Zweiter Band, Der Wanderer und sein Schatten, Aphorismus-Nr. 13