Ästhetik des Zufalls
ZWISCHEN DEN DINGEN BEWEGT SICH WAS. FRANCIS BACON UND RAINALD GOETZ.
Von Bernhard Jarosch
Kolja Reichert betitelte seinen in der „FAZ“ erschienen Artikel über die zuletzt zu Ende gegangene Francis-Bacon-Ausstellung in Stuttgart (Staatsgalerie Stuttgart) mit „Das Bild springt aus dem Rahmen“ und bezeichnete darin die Figuren, und genauer die offenen und schreienden Münder der Figuren, als „kompositorische Kraftzentren“.1 Auch Gilles Deleuze setzte sich in seiner Studie „Francis Bacon – Logik der Sensation“ mit den weit aufgerissenen Mündern des in Irland geborenen Malers auseinander und schrieb darin: „Der ganze Körper entkommt durch den schreienden Mund“.2 Wie kommt es zu der von den Autoren hergestellten Verbindung zwischen einer Bewegung – „springen“, „entkommen“ – und der starren Struktur des Gemäldes?
Der Wirkungszusammenhang zwischen der konkreten Gestalt der Figuren und der gleichzeitig ablaufenden Auflösung ihrer (Körper-)Grenzen ist als Traversierung unsichtbarer Kräfte aufzufassen. Den Gemälden Bacons ist eigen, dass sie einerseits menschliche Figuren in realistischer Form darstellen, andererseits diese „isolierten“ Figuren eine „abartige“ Verfremdung erfasst, die sie unheimlich, unmenschlich, ja tierisch werden lässt. Es ließe sich als Sichtbarwerdung von Energien beschreiben, die den menschlichen Körper von innen (zum Beispiel psychische Energien wie Sehnsucht, Hass, Wut, Schmerz, Lust) und außen (zum Beispiel physikalische Energien wie Flieh- oder Schwerkraft) umfassen. Da die Form der als menschlich identifizierbaren Gestalt und dessen energischer Verzerrung gleichzeitig im Bild zu sehen sind, lässt sich über Bacons Gemälde sagen, dass sie einen Prozess dokumentieren, somit eine Aufsicht auf eine Bewegung ermöglichen, die sich im Bild vor den Augen des Beobachters entwickelt. Die Darstellung einer Art von „bewegtem Stillstand“ lässt die Figuren pulsieren, obwohl sie auf der Leinwand fixiert sind. Der Strich des Malers ist dabei einerseits das formgebende Medium, das die Figuren auf der Leinwand festsetzt, und andererseits ist er der Träger der Auflösung beziehungsweise der Anbindung an die beschriebenen inneren und äußeren Kräfte der Figuren. Denn über die Bewegung des Pinsels auf der Leinwand wird die Fluchtlinie sichtbar gemacht, die sowohl durch die offenen Münder als auch durch die rotierenden und wie durch Fliehkräfte angegriffenen Gliedmaßen auf ein Außen hin zuläuft. Der Strich übernimmt bei Bacon die Funktion einer Doppelbewegung: Auf der einen Seite deterritorialisiert er die Figur aus seiner menschlichen Struktur heraus, ist also die Strecke weg-von, und auf der anderen Seite reterritoralisiert er die Figur in den Gestalten, die aus der Figur heraus wachsen, ist also die Strecke hin-zu.
Die Gleichzeitigkeit von Auflösung und Anbindung ist in dem hier gezeigten Gemälde in der Darstellung des Schattens und des Spiegelbildes zu sehen: Beide Elemente sind einerseits Extensionen der Figur und zugleich neue und eigenständige Formen, die aber an den Kern der Figur gebunden bleiben. Schatten und Spiegelbild sind durch eine Eigendynamik gekennzeichnet. Sie verharren nicht in ihrer realitätsgetreuen Abbildungsform, sondern sind vom Kernkörper emanzipierte Kreaturen. Die Verlebendigung der aus der Mitte der Figur herauswachsenden Kreaturen lässt den Menschenkörper tierisch werden und das Tierische zugleich menschlich. Die Zone des Übergangs – und deshalb ist vom Strich als polarem Strukturelement zwischen Asignifikanz und Potenz der Form zu sprechen – ist der Entstehungsort dieser Dynamik.
Francis Bacon spricht im Interview mit David Sylvester über seine Praxis als Maler und das darin enthaltene Dauerthema des Zufalls:
„It’s really a continuous question of the fight between accident and criticism. Because what I call accident may give you some mark that seems to be more real, truer to the image then another one, but it’s only your critical sense that can select it.“3
Zufall und Kritik leuchten hier als zwei komplementäre doch miteinander in Beziehung stehende Realitätsverhältnisse auf. Denn weder der Zufall noch die Kritik sind als in sich geschlossene Sphären zu halten, sondern allein die Relationalität oder genauer die Übergänge in denen sich der kritische Geist und der Zufall in größtmöglicher Distanz zueinander noch immer erkennen. In diesem Zwischenraum sieht Bacon seine Position als Künstler. Er vermittelt den Zufall in erkennbare Formen, nicht um ihn still zu stellen, sondern um die Form von innen her mit dem Zufall und deshalb mit seinem Veränderungspotential in Verbindung zu halten.4
Die Praxis der Malerei ist von der Praxis der Schrift dadurch unterschieden, dass das Zeichen der Malerei, der Strich, an sich eine solche Zufälligkeit der Bedeutung inne hat, wohingegen das Zeichen der Schrift, der Buchstabe, eine wesentlich geringere Formbarkeit besitzt. Doch unabhängig der medienspezifischen Präsentationsform lässt sich auch in der Schrift eine solche „Traversierung“ des Zufalls beleuchten, nämlich im Sinne der Frage: „Was also sollte geschehen mit den Eindrücken, die tagtäglich anfallen?“5 Diese Frage Rainald Goetz' artikuliert das Bacon'sche Dilemma zwischen Zufall und Kritik als Aufgabe des literarischen Projekts. Wie Bacon sich auf die „Zufälligkeit“ des Strichs verlässt, um Ansätze neuer Formen zu gewinnen, so orientiert sich Goetz an den zufälligen und alltäglichen Wahrnehmungsmomenten innerhalb des öffentlichen Raumes, um die Ansätze für eine neue Reflexion zu gewinnen. Die Beziehung zwischen der alltäglichen Erfahrung, dem zufälligen Widerfahrungsmoment und der Frage danach, wie sich diese Zufälligkeit als Teil der Literatur transportieren lässt, ist der Motor des Werdens immer neuer Sprachgebilde, die wie die Körper Bacons von einem Zug der Auflösung gekennzeichnet sind. Im folgenden Zitatblock schreibt Goetz über „Chance 2000“, eine von Christoph Schlingensief im März 2008 gegründete Kleinpartei – und zwar in einer Weise, die das Verhältnis zwischen dem Zufall und seiner Erreichbarkeit als Gegenstand der Schrift darlegt:
„1101. Ich kann nicht geordnet auf einen Punkt hin denken. Das verengt sich sofort, wird bissig, verbohrt, scheußlich. Und ich kriege keine vernünftige Ökonomie meiner Aufmerksamkeit zustande. Die letzten Tage habe ich fast NUR noch über Chance nachgedacht, über das Problem dieses da eben anhebenden gemeinschaftlichen Denk-Versuchs im Thinktank. Über die FORM so einer Sache.
[…]
1616. Plötzlich war jetzt verlangt, die von Chance ausgelösten Gedanken dorthin auf sie zurückzurichten. Aber darum geht’s gar nicht bei meinen Gedanken. Da geht es nur um den Reflex, den ein Weltevent wie Chance an einer beliebigen Ichstelle auslöst. Es geht einfach nur um das Protokoll dieses Effekts. Um reine Passivität. Warum? Weil das das einzige ist, was ich kann.“6
Was ist die Form einer solchen Sprache? Ein Ritt auf dem schmalen Grat zwischen dem zufälligen „Weltevent“ und seiner Auswirkung auf die „Ichstelle“, die bestimmbar wird durch das Protokoll, das als nachträgliche Reflexion die Haltbarkeit dieses Effekts auf seine Konsistenz hin abtastet. Räumlich dargestellt, sind „Weltevent“ und „Ich“ wie Flugkörper, die durch das Unbestimmte des alltäglichen Zufallsfeldes fliegen und sich dort als Koordinaten eintragen, wo sie kollidieren und ins Zufällige einen Markstein rammen. Die Ähnlichkeit der Bezüge bezieht sich hierbei auf den Gedanken, dass die Verlebendigung der aus der Kernfigur herauswachsenden Kreaturen bei Bacon als auch die Betonung des Weltevents bei Goetz beiderseits nach Möglichkeiten sucht, diesen Zufällen ein Eigenleben zu geben. Das Zusammenspiel aus Zufall und dem für seine „Stabilisierung“ notwendigen Einsatz des differenzierenden Denkens bildet dabei die Polarität des kreativen Schaffens beider Künstler. Spricht Goetz von „Passivität“ als dem Modus einer solchen Protokollierung des Effekts, so korrespondiert dies mit der Aussage Bacons, dass das Eigenleben des Zufalls oft zu schnell vom Willen seiner Definition gestoppt wird:
„For instance, the other day I painted a head of somebody, and what made the sockets of the eyes, the nose, the mouth were, when you analyzed them, just forms which had nothing to do with eyes, nose or mouth; but the paint moving from one contour into another made a likeness of this person I was trying to paint. I stopped; I thought for a moment I'd got something much nearer to what I want. The next day I tried to take it further and tried to make it more poignant, more near, and I lost the image completely. Because this image is a kind of tightrope walk between what is called figurative painting and abstraction.“7
Denkbar ist, dass beide Künstler eine Ästhetik des Zufalls verfolgen, der eigen ist, dass zunächst undefinierte und unbestimmte Ereignisse durch Protokoll (im Text) und Strich (im Bild) zur Form einer ästhetischen Anschauung gebracht werden. Konkreter gesprochen, liegt die Gemeinsamkeit der Ansätze darin, dass ein ästhetischer Zugriff auf bis dato unverwirklichte Realitätspotentiale verfolgt wird: „Was also sollte geschehen mit den Eindrücken, die tagtäglich anfallen?“ ist die Kernfrage einer solchen künstlerischen Haltung zur Wirklichkeit, die – sowohl bei Bacon als auch bei Goetz – mit einem Diskretionsabstand zur Reflexion Hand in Hand geht. Denn im Falle einer zu direkten Reflexionsverarbeitung wird es „verbissen, verbohrt“8 und die Ästhetik des Zufalls verschwindet komplett.
1 Reichert, Kolja: Das Bild springt aus dem Rahmen, FAZ, 19.11.2016.
2 Deleuze, Gilles: Francis Bacon - Logik der Sensation, S. 34.
3 Sylvester, David: Interviews with Francis Bacon, S. 122.
4 Vgl. Sylvester, David: Interviews with Francis Bacon, S. 121.
5 Goetz, Rainald: Klage, S. 289.
6 Goetz, Rainald: Abfall für alle, S. 412.
7 Sylvester, David: Interviews with Francis Bacon, S. 12.
8 Goetz, Rainald: Abfall für alle, S. 412.
LITERATUR
DELEUZE, Gilles: Francis Bacon – Logik der Sensation, München 1995.
GOETZ, Rainald: Abfall für alle. Roman eines Jahres, Frankfurt am Main, 3. Auflage, 2001.
GOETZ, Rainald: Klage, Frankfurt am Main, 2008.
REICHERT, Kolja: Das Bild springt aus dem Rahmen, FAZ, 19.11.2016.
SYLVESTER, David: Intervies with Francis Bacon, London, 3. Auflage, 2012.