27. November 2016

Beiläufig brisant

 

Intellektuelle Unbestechlichkeit übt Anziehungskraft aus. Der Leser kann sich mit den Mühen eines kritischen Verstandes, seinem Wagnis und seiner Kreativität leicht identifizieren. Manchmal schlägt der kritische Geist auf seinem schnurgeraden Pfad scheinbar unbeirrbar Schneisen wie mit der Machete durchs Dickicht der Mythen und arbeitet sich zu Lichtungen mit unverbrauchtem Grün durch. Der Leser jubiliert; er hatte schon nicht mehr daran geglaubt, dass der Reiseführer einen Weg kennt. Das emotionale Erlebnis ist nicht zu unterschätzen.

Man muss es aber auch aushalten können. Unbeirrbarkeit und Unparteilichkeit machen nämlich auch vor dem Leser nicht Halt. Texte, die in dieser Hinsicht wirklich gelungen sind, lassen sich nicht einfach aneignen. Sie behalten etwas Fremdes und sind ja auch die besonders stringente, disziplinierte, auffassungsreiche oder kühne Leistung eines anderen. Man kann an ihnen partizipieren, in sie hinein projizieren und sich sogar in ihnen verlieren. Insofern öffnen sie auch den Blick ins unheimliche Dunkel jenseits des geteilten Weges.

Quasi um sich zu sammeln, ergreift der Leser vielleicht die Gelegenheit zum inneren Widerspruch, wenn sich der Autor mal versteigt und/oder Neigungen offenbart, die der vorherrschenden geradezu gnadenlosen Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Responsibility zuwiderlaufen. Im vorliegenden Fall kann man so eine fast unmerkliche Störung einmal anhand einer etwas starken Auslegung der Ethik Adornos nachverfolgen, ein andermal an einer mit umfassender Zustimmung übermäßig gepolsterten Kritik an Axel Honneth. Solche Beobachtungen sind hier allerdings nichts weiter als Abgrenzungsreflexe.

Martin Seels Erläuterung im titelgebenden Aufsatz »Aktive Passivität«, dass »sich auf etwas einlassen«, sich von seiner Welt (allgemein gesprochen) bestimmen lassen, den Kern eines gelungenen Weltverhältnisses ausmacht, ist bestechend klar und evident. Mindestens für Philosophen, Schriftsteller und andere Künstler sind mit dem Einlassen aber notgedrungen auch Erschütterungen verbunden, wie sie etwa Wittgenstein mit einer Bemerkung festhält, die Seel zustimmend zitiert: »Beim Philosophieren muss man ins alte Chaos hinabsteigen und sich darin wohlfühlen.«

Schon die zurückgezogene, vernehmende, sich Texten und anderen Wahrnehmungsobjekten schutzlos öffnende Arbeitsweise bietet Angriffsflächen (von der notwendigen sozialen Abkapselung ganz abgesehen). Doch Frustration und Trauer gehören auch deshalb zum Risiko des (Mit-)Denkens, weil die Philosophie die fundamentalen Fragen des Wissens und des guten Lebens stellt, ohne mit eindeutigen Antworten aufzuwarten. »Die Beherrschung des Denkens ...«, resümiert George Steiner in seinem Essay »Warum Denken traurig macht«, »hebt den Menschen über alle anderen Lebewesen hinaus. Doch macht es ihn sich selbst und der Ungeheuerlichkeit der Welt gegenüber zum Fremden.«

Steiner will hier gar nicht darauf hinaus, aber »die Beherrschung des Denkens« ist nach dem Befund der älteren Kritischen Theorie ja selber das Problem. Wer einem übersteigerten Verlangen nach Autonomie nachgibt, dieses Motiv taucht bei Martin Seel seit langem auf, wer sich also » ... auf Selbsterhaltung fixiert, verliert seine Welt« (aus dem »Versuch über die Form des Glücks« von1995).

 

Mit welcher Transparenz und Lockerheit philosophieren dagegen möglich ist, sprachlich, methodisch und argumentativ, führt Seel in »Aktive Passivität« dann geradezu vor: Wie man Probleme klar benennt. Wo es keine vernünftigen Lösungen geben kann, wenn man die Fragen nicht anders stellt. Wo allzu radikale Methoden das Ergebnis eher schmälern, und so weiter. Er führt das vor, heißt auch: Er bezieht seine Autorität nicht aus irgendeiner einmal bezogenen Stellung. Das sorgsame Begründen ist zugleich Inhalt und Form des Denkens, ein ethisches Programm (und indirekt also auch eine Botschaft für postfaktische Zeiten).

Schon aus diesem Grund ist es zu kurz gegriffen, Seel einfach als Stilisten oder Ästheten zu apostrophieren. Dass er gut schreibt, ist auch ein Ergebnis seiner Einstellung zur Richtigkeit (»Genauigkeit kommt immer der Schönheit zugute und richtiges Denken dem zarten Gefühl« – zitiert Seel Adorno, der damit David Hume zitiert; auch hier trifft es aber zu). Dabei ist im Laufe der Zeit wie nebenbei eine seltene Erneuerung der philosophischen Sprache gelungen, die denkbar konkret ist und Alltagssprache gegen akademischen Jargon setzt, ohne an Nachprüfbarkeit oder Teilhabe an wissenschaftlichen Diskursen einzubüßen (es werden etwa Habermas, Brandom, Nietzsche, Adorno oder Honneth ausführlich kommentiert). Nach den »111 Tugenden« und den »Theorien« ist »Aktive Passivität« ein weiteres Beispiel für einen derartigen Gestaltungsprozess am philosophischen Material. Gemeinsam ist diesen Titeln auch ihr beiläufiger und unprätenziöser Auftritt mit einer Tendenz, die eigene philosophische Brisanz und Brillanz ein wenig unter den Tisch zu kehren. Die drei Abschnitte der »Aktiven Passivität« tragen die profanen Überschriften »Vom Wahren«, »Vom Guten«, »Vom Schönen«, als ginge es um Klischees, es handelt sich dabei aber vielmehr um einen Akzent auf fundamentale philosophische Perspektiven.

Im Grunde handelt es sich bei dem Band um eine gut sortierte Sammlung von an anderer Stelle bereits erschienenen Aufsätzen; durch etliche Binnenverweise verknüpft. Dadurch dass Seel in Fußnoten auch auf sämtliche seiner eigenen, früheren Schriften verweist, bis hin zur »Kunst der Entzweiung« (1985), entsteht mit der Zeit der Eindruck, die »Aktive Passivität« bündele bisher erreichte Positionen. Eine Art Wegmarke.

Und liest man die Texte am Stück und von vorn, was ich erst im zweiten Anlauf getan habe (Menschen sind »Ich-Sager« und Philosophen auf ihre Weise oftmals auch, so der Tenor des Stückes über Nietzsches Spätstil), wird noch ein Gestaltungsmerkmal erkennbar: Der Einführung von Begriffen und Definitionen folgen Text für Text immer weitere Erläuterungen und Vertiefungen; die Komposition ist holistisch und repräsentiert damit formal auch ein Moment von Seels Denken. So auch die thematische Entwicklung und die konkrete, natürliche Sprache, die jeweils selber als Konsequenzen aus philosophischer Reflexion aufgefasst werden können. Seel wendet sein Denken auf sich selber an. Je weiter das klar wird, desto brisanter erscheinen die Essays. Das gilt auch für ihre »Welthaltigkeit« (besonders im dritten Abschnitt, wo es um ästhetische Erfahrung geht).

Diese gewissermaßen performative, sich selbst erfüllende Schlüssigkeit ist tatsächlich famos – und auf diesem Niveau lassen sich daran Attribute wie Stil und Ästhetik zu Recht anknüpfen.

 

Ralf Schulte

 

Martin Seel: Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste. S.Fischer 2014, 382 Seiten, 24,99 €

 

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