27. November 2016

Enklaven-Theater

 

Ende August 1944 eröffnet der Prinz von Hohenzollern-Sigmaringen ein Telegramm. Was darin steht, kann nichts Gutes sein, denn es wurde in Berlin aufgegeben. Unterzeichneter: Ribbentrop. Das Schloss ist mit sofortiger Wirkung beschlagnahmt, die fürstliche Familie wird ins benachbarte Wilflingen geschickt. Was ist passiert? Passiert ist die unausweichliche, aber noch nicht faktische Niederlage NS-Deutschlands. Das hat auch im nahen Ausland Auswirkungen. Etwa in Frankreich, wo das Vichy-Regime mit bangen Augen die Entwicklungen nach dem D-Day verfolgt. In Berlin, das schließlich für Frankreich (noch) verantwortlich ist, hat man ein Einsehen. Man kann nicht gut mit ansehen, wie der Marschall Pétain und seine Gefolgsleute abgeschlachtet werden (natürlich nicht von den Amerikanern, sondern von den eigenen Landsleuten). Also bildet man eine Exil-Kollaborationsregierung. Und zwar in Sigmaringen, das nicht weit von der Grenze liegt. Ist es eine Entführung, ist es eine Rettung? Die Franzosen machen wohl oder übel mit, redet man nicht gerade jetzt verstärkt von den Wunderwaffen des Führers? Die knapp 400 Zimmer des Sigmaringer Schlosses werden nicht alle benötigt, aber es ist gut, dass es Platz zwischen den Parteien gibt, denn gerade die oberen Etagen des Regimes, also Vichy-Chef Pétain und der Ministerpräsident Laval, verstehen sich nicht besonders. Pétain, Laval und die "Minister" (Déat u.a.), der "Regierungspräsident im Exil" Brinon und andere "Verantwortliche" merken schnell, auch wenn sie es nicht zugeben, dass es eigentlich nichts mehr zu regieren gibt. Man kann also etwas für die eigene Erholung tun, z.B. in Form von Spaziergängen. Außerdem ist das Essen (noch) gut. Für dessen Zubereitung und für die ganze Dienerschaft, die im Schloss geblieben ist aufgrund der großen Gästeschar, ist verantwortlich der Majordomus Julius Stein, aus dessen Blickwinkel das ganze Geschehen erzählt wird. Mit seinem Herren teilt Stein den aristokratischen Zug der Unerschütterlichkeit. Dahinter verbirgt sich, zumindest was den "Domestiken" angeht, ein hochsensibles Gemüt. Stein ist nämlich auch Musiker, genauer: Sänger, und er ist auf eine sehr eigene Art zum Widerständler geworden. Anno 1933 verweigerte er kurzfristig ein Konzert, da man auf seine Forderung, einen Bechstein-Flügel gegen einen anderen auszutauschen, nicht bereit war einzugehen. Nicht dass der Bechstein-Flügel seinen hohen ästhetischen Ansprüchen nicht genügt hätte. Aber der Sänger wollte nichts mit der Nazi-Sympathisantin Helene Bechstein zu tun haben, der Ehefrau des Pianofabrikanten. Seitdem firmiert Stein nurmehr als Majordomus. Die französische Equipe aus Vichy hat natürlich auch ihre Dienerschaft mitgebracht, und mit Mme Wolfermann steht Julius ein weibliches Pendant des "Oberen des Hauses" gegenüber. Die beiden freunden sich miteinander an, was der Professionalität des Protokolls in nichts schadet. Sie finden Zeit, auch ins Städtle zu gehen, wo weitere Franzosen, weniger pompös, untergebracht sind. Dort macht die Französin den Deutschen auf ein paar merkwürdige Gestalten aufmerksam, z.B. den "Müllmann", offensichtlich ein Obdachloser, der ständig in den Papierkörben nach Zeitungen sucht. Oder den Journalisten und Schriftsteller Lucien Rebatet, der als Redakteur der antisemitischen Zeitschrift Je suis partout allen Grund hatte, 1944 das Land zu verlassen. Oder auch den Arzt und Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline, der sich nach drei antisemitschen Pamphleten ebenfalls unmöglich gemacht hatte. Eben der Céline der Reise ans Ende der Nacht. Als die Wunderwaffe Hitlers ausbleibt, die deutschen Städte brennen und die Alliierten immer näher rücken, wird man nervös und hektisch. Jedenfalls die Franzosen. Wohin? Niemand darf das Schloss ohne gültige Ausreisepapiere verlassen. Aber die meisten Leute trifft man ab dem März 1945 auf dem völlig verdreckten Bahnhof. Alle wollen weg. Die Offiziellen versuchen es mit der eigenen Autoeskorte. Die Schweiz ist ja so nah. Auch Céline denkt daran. Aber sowohl Pétain als auch Laval werden an der Schweizer Grenze zurückgeschickt. Personae non gratae. Aber vielleicht ist das Flüchtlingskontingent ja auch schon voll. Céline versucht es erst gar nicht mit der Schweiz. Mit dem vorletzten Zug verlässt er Sigmaringen in Richtung Dänemark. Er, seine Frau Lucie, die immer noch lebt (geb. 1912) und der Kater Bébert schaffen es ins gelobte Land, das immerhin so nobel ist, ihn nach Kriegsende nicht nach Frankreich, wo ihn der sichere Tod erwarten würde, auszuliefern. Im April 1945 ist kein Franzose mehr in Sigmaringen, und die ersten, die danach kommen, sind die kommenden französischen Besatzer, natürlich auf der Suche nach den Kollaborateuren.

Pierre Assoulines Sigmaringen ist keine Abrechnung mit dem inneren Feind. Der Autor lässt die Ereignisse Revue passieren (das ist der Teil des Majordomus), zugleich erhält der Bericht eine romaneske Unterfütterung (das ist der Teil Steins als Künstler, der auch seine Gefühle hat). Und so hat der Text mehr etwas von einer Burleske als von einer Groteske. Es wäre auch schwer, auf diesem Gebiet noch etwas leisten zu wollen, denn kein anderer als Céline hat diesem Schloss, dieser Zeit und seinen peripheren Bewohnern eben diesen Zug verliehen. Nichts Grotesker als die Lektüre von D'un château l'autre, Mittelstück von Célines sogenannter Deutschland-Trilogie. Assouline hat ein Buch geschrieben, das die Versöhnung zweier Nationen sucht und findet. Und es ist, vielleicht noch schwieriger, der Versuch der Versöhnung mit der eigenen, französischen Geschichte der années noires.

Dieter Wenk (10-16)

 

Pierre Assouline, Sigmaringen, Paris 2014 (Pierre Assouline et Éditions Gallimard)