29. Oktober 2016

Elisionen (3)

 

Die längst untergegangene Welt des Duells ist ohne die Begriffe der verletzten Ehre und der Genugtuung nicht zu denken. Umso erstaunlicher, wenn Ausschließlichkeitsforderungen (du oder ich; er oder ich) ganz ohne den Hintergrund jener Welt fallen und zwar mit einer Gewissheit, die den Rang eines Naturgesetzes zu haben scheint.

 

I

So schreibt der österreichische Schriftsteller Arnolt Bronnen (1895, Wien, bis 1959, Ost-Berlin), der sich vor allem als Expressionist einen Namen gemacht hat, in seiner in den 50er Jahren erschienenen Autobiographie: "Ich hatte immer gewußt, daß von uns beiden nur einer überleben konnte, und das war mit ein Grund, warum ich mich immer wieder gemeldet hatte, um unter gleichen Chancen den gleichen Kampf zu bestehen." Der Beginn des Ersten Weltkriegs. Der jüngere Bruder Rudi ist schon Kadett, als Arnolt endlich, nachdem er mehrmals zurückgestellt worden ist, einrückend gemacht wird. Dazu der zugleich humorvolle wie realistische Gruß des jüngeren Bruders: "Auf Wiedersehen im Massen-Grab." Der kriegserfahrene Rudi weiß, wovon er spricht. "Gleiche Chancen", gleicher Kampf"? Arnolt lebt noch in einer anderen Welt, es ist noch nicht einmal die Propagandawelt des Krieges, es ist eine saubere, ehrenvolle Welt des Kriegs. Aber warum kann dann nur einer überleben? Wenn die Brüder ja auch gar nicht gegeneinander kämpfen? "Dies war kein Haß, kein Wett-Streit, kein Gefühl, denn zwischen mir und Rudi hatten nie wirkliche brüderliche Gefühle bestanden." Die Autobiografie von Arnolt Bronnen ist so aufgebaut, dass der Text von Fragen eingeleitet wird, die scheinbar vom Leser stammen. Die Autobiografie nimmt so den Charakter eines Tribunals an. Oder Bronnen rechtfertigt sich vor sich selber, vor seinem Über- oder Unterich. Denn natürlich hat sich Bronnen mit seinem Bruder gemessen, "der für einen begabten Maler und Graphiker" galt. "Er war geschickter, klüger, mutiger..." Und dann heißt es weiter im Part des Tribunals: "Als er assentiert worden war, während man Sie als untauglich zurückstellte, fühlten Sie etwas wie Haß. Eines Nachts, halb im Traum, sind Sie mit einer Kerze zu des Bruders Selbst-Porträt gegangen, das gegenüber von Ihrem Bette hing, haben es lange betrachtet, und dann, als es den Blick nicht von Ihnen wandte, haben Sie ihm die Augen ausgebrannt." Hört der Leser hier eine ganz alte Geschichte heraus? Oder gar einen Eintopf aus religiös-mythischem Allerlei? Und: Erklärt dieses Verhältnis jenes "Wissen", von dem oben die Rede war, dass nur einer überleben konnte? Tatsächlich stirbt Rudi im Krieg, aber es hat ihn niemand sterben sehen, seine Leiche ist nicht gefunden worden und auch nichts, was als Gegenstand mit ihm verbunden war. Das nennt man dann verschollen. Knapp zehn Jahre später wird in Frankfurt am Main ein Stück des mittlerweile sehr bekannten Autors Arnolt Bronnen, Freund Bertolt Brechts, uraufgeführt, das den interessanten Titel Katalaunische Schlacht trägt. In dieser Schlacht, die eine von Geistern ist, treffen zwei Brüder aufeinander. Einer stirbt. Warum? Wegen einer Frau, die mit ihrem Mann (dem Bruder, der sterben wird) im Schützengraben auftaucht. Bronnen erfindet hier eine ganz eigenartige Kolportage, die vielleicht aus einem Schuldbewusstsein heraus entstand. Bronnen in seiner Autobiografie: "... der große Krieg ist nocht nicht zu Ende. Die Geister der Erschlagenen kämpfen in den Lüften weiter. Katalaunische Schlacht. Der ermordete Bruder, an dessen Tod ich mitschuldig war." Auch hier bleibt Bronnen die Erklärung für die angebliche Mitschuld schuldig. Vielleicht hat er ein Theaterstück geschrieben, damit die dramatische Notwendigkeit des Theaters (aber welchen Theaters) auf sein eigenes Leben übergehe und der Tod einen immanenten Zwang darstelle, wie kolportagehaft verpackt auch immer. No one knows.

 

II

Kaum ist die "eklektizistische", später avantgardistische Zeitschrift Tel Quel (1960-1982) gegründet, fliegen auch schon wieder die ersten Gründungsmitglieder hinaus: Jean-René Huguenin und Renaud Matignon (dieser zunächst befristet, Matignon demissioniert endgültig 1963). Zu verschieden sind die konzeptionellen Vorstellungen, zu unterschiedlich die Charaktere. Das gilt vor allem für Huguenin und Jean-Edern Hallier, einem weiteren Gründungsmitglied, das im Winter 1962 ausscheidet. Huguenin, der 1962 bei einem Autounfall umkommt, hat ein Tagebuch geschrieben, das 1964 erscheint. Darin lassen sich die Begegnungen mit Hallier nachlesen (die beiden sind alte Schulkameraden). Mal sind die Einträge lapidar, mal sind sie von beängstigender Ausführlichkeit. Der Leser erhält den Eindruck, dass Hallier das Schlechte und Böse schlechthin präsentiere, er sei unfähig, ein Werk zu schaffen, da sein Charakter auf der Lüge aufgebaut sei, er sei "böse", "teuflisch" und er meide die Einsamkeit, die Huguenin so wichtig ist. Am 14. Februar 1959 scheint Huguenin eine Art Summe zu ziehen mit einem gewagten Blick in die Zukunft: "Ich bringe ihn um, J.-Ed [Jean-Edern]. Er wird leben oder ich, ich weiß es seit langem, und er weiß es auch. Wir sind beide am gleichen Tag geboren [1.3.1936], einer ist zu viel, das ist klar." Im französischen Original heißt es: Je le crèverai..., das Wort ist auch ein Argot-Ausdruck mit der Bedeutung "abmurksen", "umbringen", es kann im normalen Gebrauch aber auch heißen: jemandem die Augen ausstechen. Das ist insofern in diesem Zusammenhang brisant, als Jean-Edern Hallier Träger eines Glasauges war (er stirbt 1997). Wollte man die Gegensätze zwischen den beiden jungen Autoren literarisch auf den Punkt bringen, so stünde hinter Hallier paradigmatisch Maurice Blanchot (aber nicht sehr lange), hinter Huguenin eine romantisch-heroische Literaturauffassung, die eng mit dem Leben verknüpft ist.

1978 publiziert Jean-Édern Hallier den ersten Band seiner Gesamtausgabe, als "essai" gekennzeichnet. Der erste Text, der dort unter einem Datum erscheint, ist eine Entnahme aus dem Journal von Jean-René Huguenin. Unter dem 1.3. [sic] 1959 liest man: "Jean-Edern und ich, beide am gleichen Tag geboren, einer von uns beiden muss sterben, er weiß es, wie ich selbst es weiß." (Der 1.3.1959 ist eine Setzung Halliers, im Journal Huguenins liest man unter dem 1.3.59 allerdings von einer weiteren "Eliminierung", es geht ganz allgemein um die Frage der Liebe: "Wer ist von beiden [Liebenden] derjenige, der weitergehen wird?") Unter dem "Zitat" befindet sich der Verweis auf das Tagebuch von Huguenin, ohne jede weitere Angabe. Unschwer zu erkennen, das Hallier den Eintrag abändert. Den ersten Satz lässt Hallier ganz aus. Er schreibt seinen Namen aus. Alles findet Platz in einem Satz, aus dem die Spannung gewichen ist. Und: Das veränderte Zitat ist wie eine Inschrift an den rechten Rand der Buchseite gerückt, unter der ein weiterer Text folgt, der jedoch keineswegs eine Erklärung abgibt über das schwierige Verhältnis der beiden aus Halliers Sicht, sondern eine weitere, weit ausführlichere Entnahme aus dem Tagebuch Huguenins ist mit bezeichnenden Änderungen, vor allem Auslassungen. Weder zu der "Inschrift" oder dem Motto noch zu dem zweiten Zitat wird sich Hallier im Weiteren äußern. Er lässt das so stehen. Die Auslassungen beziehen sich u.a. auf die Augen Halliers: Anlass der Charakteristik ist ein Treffen der beiden in einer Bar. Im Text von Hallier liest man am Anfang über ihn selbst: "Im Hintergrund seines Auges, das in dieses Gesicht eines Taubstummen hineingeworfen ist und das einzige ist, das in diesem toten Gesicht lebt, habe ich plötzlich eine solche Härte gelesen, den Hass, einen so eiskalten Abgrund, dass ich vor Angst und Mitleid gezittert habe." Im Original steht an der Stelle: "Au fond de son oeil valide..." [Heraushebung von mir, D.W.] Huguenin macht auf die Einäugkeit Halliers aufmerksam, die dieser wiederum unkenntlich macht, auf die Gefahr, dass der Satz tendenziell unverständlich wird. Eine weitere Textstelle, in der Huguenin die Funktionsweise der beiden Augen, des echten und desjenigen aus Glas, untersucht, streicht Hallier komplett. Zum echten Auge heißt es bei Huguenin: "Wie bei einer Fotografie, die auf dem Kopf steht und wo die Augen einen monströsen Blick annehmen, scheint jenes Auge umgekehrt eingesetzt. Das andere, das Glasauge, ist von einer Sanftheit, die einschläfert, darin besteht die ganze List seines Gesichts –, es versichert, es beruhigt, es ist das Auge, das man am häufigsten ansieht, und wie in den Hexengeschichten sitzt man dieser Verstellung auf. Die Wahrheit kommt zum Durchbruch, wenn man für einen Moment das andere Auge fixiert. Dieses eigenartige Auge – grüne Lache, trübe wie das Wasser eines Teichs – hat zwei Blicke: der eine ist mit einer Bissigkeit und kalten Grausamkeit hin zu seiner Beute gespannt, der das krampfhafte Lachen eines Mundes hervorruft; der andere, unempfindlich, überwacht, urteilt, berechnet, empfindet schon Lust, lächelt fast schon, das zurückgehaltene Lächeln eines Mannes, der so tut, als schlafe er und der versteht, dass seine List Erfolg hat – er jubiliert!"

Man könnte von einer "Kephalisierung" des einen funktionierenden Auges sprechen, das in einer anatomisch bedingten Funktionsumschichtung Kapazitäten zugeschrieben bekommt, die monströse Züge annehmen. Wenn nun Jean-Edern Hallier diese zunächst ja nicht sehr schmeichelhafte Charakterisierung seiner Person an den Anfang seines essai (mit immerhin 470 Seiten) stellt, so scheint er damit dann doch einverstanden zu sein, wenn er nicht einfach nur kokettiert, aber er möchte diese Züge nicht auf einen anatomischen Defekt reduziert wissen (sein rechtes Auge verlor Hallier, als er während des Zweiten Weltkriegs in Budapest lebte). Man weiß, dass Hallier mit der Zeit sein Verhältnis zu Huguenin nachträglich verklärte, wozu kein Anlass bestand, liest man das Journal von Huguenin. Es geht sogar um Schuldannahme, was natürlich absurd ist, denn Huguenin kam bei einem Autounfall ums Leben. In Halliers Je rends hereux liest man: "Es war Kain, der Abel schließlich umbrachte. Von jetzt an war der Gewissensbiss in meinem Zimmer und betrachtete mich mit dem Auge von Jean-René." Dieses seltsame Duell kann immer nur einer gewinnen, nämlich der, der schon tot ist. Der Rest, und das ist das meiste, ist Literatur.

Dieter Wenk (10/16)

 

Arnolt Bronnen gibt zu Protokoll. Beiträge zur Geschichte des modernen Schriftstellers, Berlin und Weimar 1985 (Aufbau-Verlag)

Jean-René Huguenin, Journal, Paris 1964/1993 (Éditions du Seuil)

Jean-Édern Hallier, Chaque matin qui se lève est une leçon de courage. Essai. Oeuvres Complètes, Tome I, Paris 1978 (Éditions Libres-Hallier)

Philippe Forest, Histoire de Tel Quel, Paris 1995 (Éditions du Seuil)

[Übersetzungen aus dem Französischen D.W.]