11. Oktober 2016

Nachträgliche Markierung

Elisionen (2)

 

Die Plejaden werden manchmal als Siebengestirn bezeichnet, doch astronomisch summmiert man sie gerne etwas prosaischer zu einem Sternhaufen mit mindestens 1200 Sternen, weshalb sie auch als offener Sternhaufen gelten. Da die besonders hellen Sterne dieses Haufens, die man beinah mit der Hand abzählen kann, mit bloßem Auge erkennbar sind, haben sie in verschiedenen Kulturen und Religionen immer schon eine Rolle gespielt.

In den 70er Jahre des 19. Jahrhunderts greift der Schriftsteller und Diplomat Arthur de Gobineau den Plejaden-Mythos auf, reduziert aber die Zahl der Plejaden erheblich, obwohl ihm natürlich ein Fernrohr das tatsächliche astrale Massenphänomen hätte vor Augen führen können. Les Pléiades ist der Titel des Textes, der 1874 veröffentlicht wurde und sich vielleicht näher als Konversationsroman bezeichnen lassen könnte, wenn dem nicht das zentrale Thema der (ritterlichen, also absoluten) Liebe entgegenstünde. Es wird unendlich viel geredet auf diesen 300 Seiten, und es passiert fast nichts. Das ist das Moderne an diesem nahezu handlungslosen "Roman" im Sinne von "äußerlich". Innere Zuständlichkeiten und Prozesse lassen sich nur schwer auf einer zeitlichen Messlatte abbilden. Das schon damals etwas antiquiert wirkende Liebeskonzept (durch unendliches Leid zur Liebe gelangen, die zuletzt aber nicht garantiert werden kann) hat heute wohl nicht an Attraktivität gewonnen. Es soll an dieser Stelle auch um etwas ganz anderes gehen, um die Unsichtbarkeit von Phänomenen, die erst unter bestimmten Voraussetzungen sichtbar gemacht werden können. Eine Voraussetzung ist, den Text im französischen Original zu lesen. Die deutsche Übersetzung (zuletzt 1964 von Eva Rechel-Mertens) kann von dem gleich zu zitierenden Phänomen kein Lied singen. Übersetzungstechnisch, aber auch chronologisch. Chronologisch auch im Original, denn 1964 war ein bestimmter Autor, um den es hier geht, noch weitgehend unbekannt. Das sollte sich erst 1967 ändern, als Jacques Derrida sowohl seine Grammatologie als auch seine Aufsatz-Sammlung L'écriture et la différence erscheinen ließ. Erst also, als Jacques Derrida am intellektuellen, später so genannten poststrukturalistischen Sternenhimmel aufgetaucht war, konnte man einen Teilsatz des Gobineau-Textes wohl nicht mehr so schlicht lesen wie vorher. Er ist im vierten Kapitel des dritten Buchs nachzulesen, ein junger Mann, Louis de Laudon, wird von dem Fürsten Jean-Théodore empfangen, der eher schlechte Laune hat, weil er gerade einen Korb bekam. Die Laune des Fürsten hellt sich jedoch schnell auf, die Ablenkung ist da: Im französischen Original heißt es:

"De son côté, Laudon était en belle humeur; il avait de l'esprit, il avait de la verve, il dérida son auguste interlocuteur..."; Laudon seinerseits war also guter Dinge, er war geistreich, er hatte Schwung, er "heiterte" seinen erhabenen Gesprächspartner "auf"...

Seit etwa 50 Jahren liest sich also dieser Satz vor einem unwillkürlich neuen, "majestätischen" Hintergrund. Der grafische Minimalunterschied zwischen Derrida und dérida (ein r weniger, dafür ein accent aigu bei dérida, die Passé-simple-Form des Verbs dérider in der dritten Person Singular) entfällt akustisch komplett. Man – zumindest ein bestimmt geprägtes Ohr – würde also hören: "il *Derrida son auguste interlocuteur", was dazu führen könnte, dass sich die ursprünglich ja ganz korrekte Grammatikalität nicht länger aufrecht erhalten ließe, da man den französischen Philosophen bislang nicht als Verb kennen lernen durfte. Die "derridadaistische" Irritation wäre vermutlich ganz im Sinne des Philosophen, auch und gerade weil dérider zunächst etwas bezeichnet, was mit Glättung zu tun hat (Falten beseitigen), eine Operation, die man mit der Dekonstruktion generell nicht verbindet. Der Witz der Sprache ist unberechenbar.

Und so unweigerlich, obwohl ja nur retrospektiv, sich der französische Philosoph namentlich nun also in dem viel älteren Schriftstück, jedenfalls akustisch, wiederfindet, so sehr wird dem armen Jean-Théodore, der ein weiteres Mal eine amouröse Niederlage einstecken musste, die die erste um Gefühlsintensitäten überragt, alles brieflich ihm in der Einsamkeit Mitgeteilte zu "Aurora", das ist der Name derjenigen, in die er sich unsterblich verliebt hat. Der Sinn des Briefes oder eines Buches entschwindet schnell, dieser Mann ist liebeskrank: "... und wenn er ein Buch nahm, löste sich in wenigen Augenblicken seine Aufmerksamkeit von dem Inhalt: Mit den Silben verschiedener Wörter, später mit den Buchstaben bildete er den Namen Auroras, er verbrachte Stunden mit dieser Beschäftigung, die ihm weh tat, aber immerhin für einige Momente seinen Kummer täuschte." Die Plejaden – was sind sie anderes als die "Herrensignifikanten" im Sprach- und Wirklichkeitsgewühl. Sie verbürgen als Clichés normalerweise Wiedererkennbarkeit und Vertrautheit, können aber auch poetische Wirkungen erzielen oder wie im zweiten Beispiel (Aurora) von einer schweren Melancholie künden. Auch wenn der Eigenname Derrida im ersten Beispiel zunächst einen dadaistischen Effekt produziert, vollzieht das Lesen unwillkürlich einen Akt der Überlagerung und damit der Kommutation und macht in seinem Vollzug darauf aufmerksam, dass Signifikanten, also das, woraus das Sprachmaterial besteht, generell austauschbar sind. Jacques Lacan: "... die Ersetzung eines Signifikanten durch einen anderen Signifikanten steht als solche am Anfang der Vermehrung der Bedeutungen, die die Bereicherung der Welt des Menschen charakterisieren." Und das ganz ohne die Absicht des Autors, die hier ganz souverän elidiert werden kann.

Dieter Wenk (9-16)

Arthur de Gobineau, Les Pléiades, in: Gobineau, Oeuves III, Paris 1987 (Éditions Gallimard), Bibliothèque de la Pléiade, 1-302 [Übersetzung: D.W.)

Jacques Lacan, Le Séminaire, livre VI, Le désir et son interprétation, Paris 2013 (Éditions de La Martinière), Le Champ Freudien [Übersetzung: D.W.]