13. April 2016

Jung, Benn, Celine – "Ärztlicher Nihilismus"

Gottfried Benn

 

Walter Benjamin hat nachweislich Célines ersten Roman, Voyage au bout de la nuit, gelesen. Aber es ist wenig wahrscheinlich, dass er auch Célines medizinische Doktorarbeit über den ungarischen Hygieniker Semmelweis zur Kenntnis genommen hat, denn sonst hätte er in einigen seiner Notizen zu dem Großprojekt der Pariser Passagen Céline nicht so ohne Weiteres als Vertreter eines "ärztlichen Nihilismus" in Anschlag bringen können.

Im Jahr 1936 hält sich Benjamin nach wie vor als Emigrant in Paris auf. Seine finanzielle Situation wird immer dramatischer. Max Horkheimer, der sich zu dieser Zeit schon in New York befindet, bietet Benjamin an, etwas für das Institut für Sozialforschung zu schreiben. Es trifft sich, dass Benjamin bei seinen Studien zum sogenannten dialektischen Bild, das er als erkenntnistheoretische Figur seiner Arbeit über die Pariser Passagen im 19. Jahrhundert zugrunde legen will, auch auf den Schweizer Psychologen C.G. Jung stößt und dessen Hypothese der menschlichen Archetypen.

Eine Filiation rechter Ärzte tut sich auf: Jung, Benn, Céline. Thema: ärztlicher Nihilismus. In dem Konvolut "Erkennntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts" zur Passagenarbeit heißt es in der Notiz [N8a,1]: "In der Produktion von Jung gelangt zu später und besonders nachdrücklicher Auswirkung eines der Elemente, die, wie man heute erkennen kann, eruptiv vom Expressionismus zuerst an den Tag sind gefördert worden. Es ist das eines spezifisch ärztlichen Nihilismus, wie er auch in den Werken von Benn begegnet und einen Nachzügler in Céline erhalten hat." Auf welcher Ebene ist diese Diagnose zu situieren? Personal, werkimmanent, soziologisch, rein ärztlich? Benjamin fährt mit einer erstaunlichen Ätiologie fort: "Dieser Nihilismus ist aus dem Chock hervorgegangen, den das Innere des Leibes den mit ihm Umgehenden erteilt hat." Spricht Benjamin hier elliptisch von den Erfahrungen des Chirurgen im Ersten Weltkrieg? Oder von der großen Desillusionierung im Anschluss an den "Großen Krieg"? Die Sache wird noch rätselhafter, wenn man erfährt, worauf Benjamin hinaus will, nämlich auf eine Engführung von Expressionismus und Faschismus in der Folge von Georg Lukács. Die Literaturgeschichte kennt in der Tat Übergänge vom Expressionismus in rechte Fahrwasser etwa bei Benn, Johst, Bronnen, aber auch Brecht war Expressionist, Céline dagegen hatte nie eine expressionistische Phase, und seine berühmte Voyage wurde 1932 von einigen Kritikern als kommunistisch gefeiert. Kommunist war auch der Mediziner André Breton. Wie also entsteht "ärztlicher Nihilismus", wenn man sich nicht auf die Benjaminsche Erklärung verlassen kann und will?

Tatsächlich hatte Benjamin 1936 noch nicht sehr viel von Jung gelesen, und die einschlägigen Pamphlete von Céline lagen ja noch gar nicht vor. Im Sommer 1937 schreibt Benjamin an Scholem, dass nach der Lektüre von Essaybänden von Jung ihm klar geworden sei, "daß diese Hilfsdienste am Nationalsozialismus von langer Hand vorbereitet waren." Wir wissen, dass Gottfried Benn sogar noch ein wenig anspruchsvoller war und sich nicht damit begnügt hätte, nur Hilfsarbeiter Hitlers zu sein. Aber die Nationalsozialisten wollten ihn ja gar nicht, er war ja Expressionist (gewesen), und das war irgendwann nach 1934 eine rufschädigende Kategorie. In einem nur wenige Tage später geschriebenen Brief schreibt Benjamin sogar von der "faschistischen Armatur" Jungs, die er in einem Werk, das er nun hat aufschieben müssen, kritisieren wollte. Noch etwas später gerät Jungs Werk gar zum "Teufelswerk, dem man mit weißer Magie zu Leibe zu rücken hat."

Es ist nicht einfach, bei dieser frei flottierenden Begrifflichkeit klar zu sehen. Zu Céline hatte sich Benjamin schon einmal früher geäußert, und zwar in dem Aufsatz "Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers", der 1934 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienen ist, Benjamins erster Beitrag für dieses Organ. Céline wirft er Konformismus vor, das Rebellische der Voyage spricht er "mit Unbehagen an", den "offenkundigen" Nihilismus führt er auf das gewählte Milieu des Romans zurück, das Lumpenprolerariat, und der Roman sei gescheitert, weil "das Eigenste der revolutionären Schulung und Erfahrung [...], die Klassenschichtungen zu erkennen", nicht gelungen sei. Walter Benjamin wirft hier keinen sehr glücklichen Blick auf Céline, denn er erkennt, anders als viele andere in dieser Zeit, nicht das Neue der Schreibweise des Franzosen, die sich im Laufe der Zeit, bis hin zu Féerie pour une autre fois, weiter radikalisieren wird. Der Skandal mit Céline wird ein anderer sein, aber das kann Benjamin zu dieser Zeit noch nicht wissen, weil die Texte noch nicht geschrieben sind, die Pamphlete Célines. Das antisemitische Pamphlet im Schafspelz eines Avantgardetextes. Darauf hat Julia Kristeva hingewiesen. Nein, Benn und Céline sind keine ärztlichen Nihilisten. Sie sind Ästheten ersten Rangs. Und sie haben den Wind der Zeit auf ihre Art aufgenommen.

Das Jungsche Projekt von Benjamin ist von Max Horkheimer gestoppt worden, er schlug ein anderes Thema vor: Baudelaire. Das umfangreichste Konvolut seiner Aufzeichnungen und Materialien zum Passagenbuch stellt das zu Baudelaire dar; daraus ist dann sein Baudelaire-Buch für das Institut entstanden. Unter der Sigle [J 40,1] der Materialien liest man ein Exzerpt, das auf eine ganz andere Art verstört als die Rede vom ärztlichen Nihilisten: "Gauloiserie bei Baudelaire: 'Belle conspiration à organiser pour l'extermination de la race juive. Les juifs[,] Bibliothécaires et témoins de la Rédemption.' [...] Céline hat die Linie fortgesetzt. (spaßhafter Raubmörder!)"; zu deutsch: Derber Spaß bei Baudelaire: 'Schöne Konspiration zu organisieren zur Auslöschung der jüdischen Rasse. Die Juden, Bibliothekare und Zeugen der Erlösung.' Das war keine öffentliche Äußerung Baudelaires, man findet sie am Ende seines "journal intime" Mon coeur mis à nu. Baudelaire war kein Antisemit, das wusste Benjamin, denn er verwendet selbst das Wort "gauloiserie". Trotzdem bleibt ein Gefühl des Unwohlseins, im Sinne von Canettis Stachel.

Es bleiben viele Fragen: Ist der vermeintliche ärztliche Nihilismus ein generelles Phänomen, der jeden Arzt trifft, denn jeder Arzt muss unter die Haut schauen? Warum aber dann Benn und Céline auswählen? Sicher gibt es bei Céline Stellen, die nach Nihilismus aussehen. Aber sein Programm war doch ein sehr anderes. Er wollte – und darin ist er "absolut modern" – die Literatur seiner Zeitgenossen, die alte Literatur hinter sich lassen, überflüssig machen: Er wollte der Erste und Einzige sein. Ein echter maniac, ein echter Künstler. Und wohl ein guter Arzt.

Dieter Wenk (4-16)

 

Literatur:

Walter Benjamin, Das Passagenwerk, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2015

Burkhardt Lindner (Hg.), Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2006 (Metzler)