21. Januar 2016

Einsichten im Dialog

 

Gewinnt man nicht gelegentlich den Eindruck, als ginge die Erlahmung des abendländischen Denkens zurück auf seine monologisierende Gestalt? Als seien die buchschweren Monologe kaum noch Gaben der Philosophen, sondern ihr Gift?

In Frankfurt am Main hat der Schriftsteller und Übersetzer Alexandru Bulucz entschieden, die Form und Methode des Gesprächs bzw. des Dialogs als Gegengift zum Monolog in Stellung zu bringen. Längst schon ein Gesprächspartner von unter anderem Mircea Cartarescu, Bora Cosic, Ronja von Rönne, Karl Dedecius, Helmut Werres oder Jean-Luc Nancy, gründete Bulucz nun in der Edition Faust eine Reihe, die wichtigen Philosophen die Gelegenheit gibt, ihr Wissen dialogisch zu entfalten.

Denn wirkt die selbstgenügsame Darbietung der Ideen heutzutage nicht häufig wie ein großes unbewegliches Tier, das auf einem fremden Gestade gestrandet ist und in seiner Verendung nur noch mühevoll zuckt? Wirkt der Monolog – als Darbietungsform von Wissen – denn nicht häufig wie ein langatmiger Schrei ohne Adressat?

Aber dem penetranten Leerlaufen der müd gewordenen Monologe steht nun wieder die agile Lust des Dialogs gegenüber. Die Tyrannei des Traktats wird herausgefordert durch den lebendigen Schlagabtausch der Disputation. Und der Traktat wird fallen.

Denn ist es heute – im 21. Jahrhundert – nicht überall offenkundig, wo Wissen und die Gewinnung von Erkenntnis sich ins Werk setzen wollen, dass sich die selbstbezügliche Rede des Monologs abgekoppelt hat vom Denken in der Welt? Ist nicht die thomistische Struktur des Traktats, die darin besteht, selbstgestellte Fragen sich selbst zu beantworten, ein entsetzlich arthritisches Zeugnis dieser folgenschweren Verirrung?

Und wo ist der attische Geist, der das Wissen vom Bienenstock der wimmelnden Polis gewinnen will? Wo ist der sokratische Mut des Philosophen, der sein Denken im Angesicht eines Fragenden entwickeln will? Wo ist der Philosoph, der sein Denken nicht als bereits ausformulierte und übergriffige Demonstration eines Wissenden darlegt, sondern als responsiven Akt der Rechenschaft angesichts der Neugier eines anderen hingibt? Sind nicht diese notwendige Präsenz und Kollision, die der Dialog erfordert, ein Garant für die Echtheit des Denkens als Verstand und Verstandenwerden?

Drei Bände aus der neuen Reihe »Einsichten im Dialog« liegen bereits vor, in denen keine geringeren Philosophen mit dem Fragesteller debattieren als Hans-Jörg Rheinberger, Peter Strasser und Dieter Henrich; ein vierter Band mit Heinrich Spaemann wird im Herbst 2016 realisiert werden. Im Dialog erlauben die Philosophen nicht nur Einblick in ihr Denken, sondern auch in ihre Persönlichkeit und das intellektuelle Milieu, worin dieses Denken subsistiert.

 

Der Traktat ist tot. Es lebe der Dialog!

 

In einem Dialog sind die Identität und die Charakterisierung der dramatis personae von Bedeutung für das, was über diese Akteure als Plot verhandelt wird. Daher warnt Alexandru Bulucz seine Gesprächspartner vor, wenn er zu Beginn eines der Dialoge sagt: »Die Reihe ›Einsichten im Dialog‹ ist eine persönliche Reihe. Sie soll den Menschen, mit dem ich spreche, in seiner ganzen Bandbreite und Persönlichkeit hervorheben und nicht nur in seinem Beruf.«

Darauf folgt die eigentliche Frage an den Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger, die bewusst an dessen professionelle Expertise zunächst vorbeigeht, um eine Stellungnahme zur ersten Publikation des emeritierten Direktors des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin zu erhalten: zu seinem 1968 erschienenen Gedichtband Tage.

Gewiss, keine Gretchenfrage. Und doch reicht sie aus, um Rheinberger einige Details zu entlocken, die das Milieu seiner formativen Jahre als Student zu charakterisieren vermögen: etwa seine Bekanntschaft mit dem Verleger der legendären Edition Brunidor (Paris), Robert Altmann, den Kontakt zum Architekten Ricardo Porro, wichtige Leseerfahrungen, zu denen Werke von Paul Celan, Isidore Isou, Ghérasim Luca und Tristan Tzara im Umfeld des Lettrisme zählen, oder seine ersten Erfahrungen im Berlin von 1968, das er erreicht, als er Tübingen nach drei Semestern verlässt und im Kadettenweg in Lichtenfelde mit einem Freund eine Souterrainwohnung bezieht.

»Es sind Stimmungsbilder«, beurteilt Rheinberger seine Juvenilia im Gespräch. »Es sind ganz kleine Stücke, Miniaturen, die einfach versuchen, eine Anmutung, eine Befindlichkeit irgendwie in Worte zu fassen.«

Es ist dies kein Schwelgen im Ehedem. Vielmehr der Versuch, sich dem Unbekannten zu nähern, seinen Kosmos, seine Aura in Dutzenden Mitteilungssplittern des sich im Antlitz des anderen selbst explizierenden Gegenübers zu erahnen. Peter Strasser führt sogar die Wendung der »Erotik des Diskurses« ein, die ja bekanntlich in Platons Symposion – nicht nur für die Figuren Pausanias und Agathon – ein zentrales Moment für das Verstehen darstellt.

Klar, man will schmunzeln. Es ist aber was dran, wenn der Grazer Philosophieprofessor Peter Strasser plötzlich feststellt: »Aber ein gutes Gespräch besteht oft zugleich aus Enthüllungen und Verschleierungen; es kann – und das als Glücksfall – ein Tanz um einen Mittelpunkt sein, der niemals direkt ins Blickfeld rückt. Man merkt dann: Der andere wird nicht verdinglicht, sein Geheimnis als ›der Andere‹ bleibt gewahrt. Flirts sollten so funktionieren, und vielleicht täte es ja der Philosophie auch gut, sich nicht hinter der Maske reiner Objektivität zu verschanzen, sondern sozusagen ein bisschen ›flirtig‹ zu werden.«

 

Milieugeschichte, live

 

Der wohl mit Abstand faszinierendste Dialog findet mit dem 1927 in Marburg geborenen Dieter Henrich statt. Darin scheint es nur am Rande um die herrlichen Untersuchungen zu Hölderlin zu gehen, die Dieter Henrich mit Der Gang des Andenkens. Beobachtungen zu Hölderlins Gedicht (1986) oder Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795) (1992/2004) vorlegte; und auch seine Gedanken zum deutschen Idealismus, zur Genese von Ideen, zu Fichte oder Hegel scheinen nicht besonders in den Vordergrund zu treten. Was dazu zu sagen ist, ist ja bereits veröffentlicht.

Stattdessen bietet das Gespräch mit Dieter Henrich einen Einblick in die Milieugeschichte des deutschen Nachkriegsdenkens. Dies im Übrigen nicht als ideengeschichtlicher Essay, sondern mit Hilfe zahlreicher Anekdoten und Einschätzungen – also per Konkreta.

Beispielsweise wenn Henrich von seiner Begegnung mit dem ehemaligen Generalmusikdirektor der Münchner Philharmoniker, Sergiu Celibidache, berichtet. Nachdem Henrich die Nachkriegstristesse geflohen, Berlin gemieden und Heidelberg den Rücken gekehrt hatte (»Die Schönheit der barocken Bauten auf gotischen Kellerfundamenten und die große philosophische Tradition wogen mir die enge Tallage und die Funktionslosigkeit trotz Touristenattraktion nicht auf«) und nach München gelangt war, machte er Bekanntschaft mit dem wohl bekanntesten Interpreten der Werke Bruckners, dem rumänischen Dirigenten Celibidache: »Ich habe München unter anderem Celibidache zu verdanken, und er ist kein Bayer«, sagt der Philosoph zu Alexandru Bulucz. Während der ehemalige »Großkritiker« der Süddeutschen Zeitung, Joachim Kaiser, sich wohl vor der Guru-Attitüde des Dirigenten fürchtete und sein Gehör mit großer Bitternis füllte, werden besonders die Tschaikowsky-Interpretationen Celibidaches für Henrich zur Offenbarung: »Ich habe Musik noch nie, außer als Kammermusik, so gehört: mit einer Transparenz, dass man wie durch eine Glasarchitektur durch die Partitur, die er dirigierte, hindurchhören und -gehen konnte. Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können vor Bewunderung dafür, dass er mir etwas gezeigt hatte, was ich für unmöglich gehalten hatte.«

Der emeritierte Philosoph wohnt bald den öffentlichen Proben des Musikdirektors bei. Auf wenigen Seiten dieses Dialogs (aber auch in den anderen Gesprächen) kann der aufmerksame Leser mehr über die kulturgeschichtliche Mechanik dessen, was die Deutschen als »Geist« bezeichnen, erfahren als in umständlichen so genannten ideengeschichtlichen oder milieugeschichtlichen Aufrissen und Kontextualisierungen einzelner philosophischer Strömungen. Sämtliche Denker haben die Fähigkeit der Begeisterung und Bewunderung für Persönlichkeiten, die sie als fundamental anders erkennen, von denen sie sich jedoch im Übergang zum eigenen Denken inspirieren lassen und an denen sie sich auch messen.

»Eine wichtige Lehre seiner Technik im Dirigieren war, dass, wenn die Instrumente wechseln, jedes Instrument immer genau darauf achten muss, worauf es antwortet und was und wie es aufnimmt, so dass die Instrumentengruppe das, was ihr von den anderen übergeben wird, weiterführt und wandelt, das bedeutet, wie die Artikulationen innerhalb dieser Phasen der Partitur different zu spielen sind. Dadurch ergab sich dieser Transparenzeffekt [etwa zu hören ab Minute 25:20]. Celibidache hat viel länger geprobt als andere Dirigenten. Ich hatte schon lange zuvor erfahren, dass die Philosophie gegenüber anderen Disziplinen die eindrucksvolleren Bauformen des Denkens ausbildet – zuerst findet man diese Art Architektur bei Platon und trotz seiner Selbstbegrenzung im Wissen von einer Welt dann auch bei Kant. Das sind Zuordnungen von außerordentlicher Subtilität, Weite und Gestaltungskraft. Wenn der Mensch ein Bild von der Welt hat, das dieser Welt und den Menschen angemessen ist, dann muss es differenziert sein. Es muss aber auch transparent sein, und die großen Philosophen bieten Ihnen diese Architekturen, in denen Sie dann versuchen können zu leben. Dem hat Celibidache für mich in der Musik entsprochen.«

Eine weitere Verbindung zwischen Henrich und Celibidache lokalisiert der Philosoph im indischen Denken: in Celibidaches »Orientierung am Denken aus indischem Ursprung. Er betrachtete die Musik sozusagen als eine philosophische Form der Welterschließung nach folgender Grundtypik: Der Komponist setzt einen Anfang, der auf das zu entfaltende Ganze voraussehen lässt, das er in nuce bereits enthält.« Henrich reflektiert im Gespräch mit Bulucz das Gelingen und Scheitern dieses Anspruchs, den Anfang vom Ende her auszulegen, d.h., die musikalische Interpretation solchermaßen durchzubilden: »Er selber sagte, dass es ihm nicht immer gelinge, Anfang und Ende zusammenzubringen und damit diese Synthese der Komposition im Dirigieren zu erreichen. Da ist die Transparenz, die Durchsichtigkeit natürlich eine Voraussetzung, aber das genügt noch nicht, um diese Formwahrnehmung zu erreichen, die einer philosophischen Lebenseinsicht vergleichbar ist.«[1]

 

»Aber ich weiß nicht, ob es überhaupt die Zeit für große Philosophen ist«

 

In einem weiteren Segment des Dialogs erzählt Dieter Henrich von seinem persönlichen Exorzismus des Wiener Kreises, der die deutsche Nachkriegsphilosophie in ihren analytischen Ansätzen dominierte: »Im Wiener Kreis war der logische Empirismus eine Figur, die wohl geläufig war, aber es war etwas Dogmatisches damit verbunden.«

Ausgedehnte Aufenthalte an amerikanischen und britischen Universitäten erlauben Dieter Henrich, eine alternative Denkungsart der analytischen Philosophie ad sanctos zu studieren: »Ich […] fand unter den Autoren, die mir dabei [als Dozent] zugänglich wurden, einige so faszinierend, dass ich dachte, diesen Diskurs, diese Argumentationsart musst du beherrschen lernen. Das war vor allem einerseits Peter Strawson in Oxford und andererseits Wilfrid Sellars in Pittsburgh.« In Harvard besucht er jedes Seminar von Willard Van Orman Quine und Roderick Chisholm; an der Columbia University trifft er auf Ernest Nagel, Sidney Morgenbesser und den polymath Arthur Danto.

Erhellend ist im Übrigen aber besonders der Teil des Gesprächs, in dem es um Henrichs frühe Zeit in Marburg geht, als er Heidegger getroffen hat und schließlich bei Gadamer »erst einmal zum Archäologen und Rekonstrukteur großen Denkens geworden [ist] – und eben nicht zum Architekten, jedenfalls nicht für einen Eigenbau«.

In allen drei vorliegenden Dialogen finden sich freilich auch einige Reflexionen auf den Status der Philosophie an der Universität sowie der Universität selbst. Allerdings sei, so einige der Gesprächspartner Buluczs, keine Rettung des abendländischen Denkens zu erwarten. Vielmehr betont insbesondere Peter Strasser den immanenten Nihilismus, den seine Generation salonfähig machte. Der Grazer Philosoph beschwört mit bernhardinischer Verbitterung die Apokalypse herauf. Überall sieht er im Bologna-Prozess ängstlich eine Bürokratie heraufziehen, die sich »metastasenartig« ausbreite. Die Universität werde zu einem »Karrierehippodrom«, und der besorgte Denker meint, das Schlimmste sei, wenn »die Masse der Studenten sich zusehends in ihrer Ameisenexistenz wohlzufühlen [beginnt]«.

Anders hier der Denker auf den Spuren des deutschen Idealismus, Dieter Heinrich: »Ich vertraue darauf, dass, solange die Menschheit besteht, es Philosophie geben wird, wie explizit oder implizit auch immer. Sie hat schon unter ganz verschiedenen Bedingungen bestanden […] Ich habe mit großer Zustimmung beobachtet, dass junge Leute philosophische Begegnungsorte und Zeitschriften aufmachen […]. Sie haben dann eine Frische und Direktheit des Fragens, die wohltut.« Man erkennt hier deutlich, dass der 90-jährige Philosoph im Gegensatz zu einigen seiner jüngeren Kollegen noch nicht ans Ende seines Denkens gelangt ist, dass er noch erwartet und von ihm noch zu erwarten ist.

 

Nachkriegserfahrung im Modus der Selbstverteidigung

 

Die Geburtsjahre der Diskutanten – Dieter Henrich (1927), Peter Strasser (1950), Hans-Jörg Rheinberger (1946) – legen nahe, dass ihre professionellen Biographien, zumal ihre Bemühungen um das Denken, offensichtlich von den Erschütterungen des Zweiten Weltkriegs stark geprägt sind.

Nun kann man aber den Deutschen, auch den Alpenländischen, vermutlich keinen größeren Gefallen tun, als ihnen eine Gelegenheit zu geben, über ihre erbauliche Nachkriegsgeschichte zu sinnieren. Denn sie können dann, wie die Narrative unterschwellig immer zeigen, in der Gebärde scheinbarer tiefer Bewegtheit ausführen, wie sie alles richtig gemacht haben. Sogar ein bisschen Selbstkritik haben sie sich zwischen Käfer und Sauerkraut gegönnt.

Alexandru Bulucz allerdings kommt seinen Gesprächspartnern nicht mit einer solchen Freundlichkeit entgegen. Dies ist eine der vielen Qualitäten dieser Dialoge. Es ist als unbeteiligter Leser dieser Dialoge besonders spannend, zu sehen, wie die Verhandlung dieser Thematik in Chiffren und Codes verläuft. Etwa wenn Rheinberger angesichts seiner Ankunft im Berlin des Jahres 1968 nicht versäumt festzustellen, dass er ja eigentlich in Vaduz aufgewachsen war: »Ich kam aus diesem kleinen Land […], und das war für mich nicht eine Situation des politischen Entzugs [das Dichten ohne Revolutionsromantik und Politik, Anm. d. Red.], sondern es war eine ganz apolitische Situation, aus der ich herkam. In diesem Sinne bin ich ohne ein politisches Koordinatensystem in der Provinz aufgewachsen.«

Im Gespräch mit Peter Strasser gibt es bei aller sonstigen Freude an der Differenzierung im Hinblick auf die Frage nach Carl Schmitts sogenannter Politischer Theologie nur ein polemisierendes Schwarzweiß: »Manche scheinen Carl Schmitt ja noch immer für einen der größten politischen Denker des 20. Jahrhunderts zu halten […]. Was mich an Schmitts Schreibweise jedoch am meisten stört, ist die Art, wie er mit seiner Meinung hinterm Berg hält. Nur unter den Nazis dachte er, aus sich herausgehen zu dürfen […] Der Ultrakatholik Schmitt biederte sich den Nazis an. Seinen Antisemitismus spielte er voll aus. Schmitt war ein hemmungsloser Karrierist.«

An dieser Stelle kommt auch der unselige Krebsgang zum Vorschein, zu dem die intellektuelle Weltgeschichte in ihrer deutschsprachigen Fasson verdammt bleibt, sooft sie in den Abgrund, den Sündenfall der westlichen Zivilisation, blickt. Auf die Frage, ob sich nach der Veröffentlichung von Heideggers Schwarzen Heften für Peter Strasser etwas geändert habe bezüglich des Meßkirchners, antwortet Strasser mit der argumentativen Figur des Eingeständnisses-mit-Aber: Freilich sei Heideggers Antisemitismus besonders »widerlich« und auch seine »bramarbasierende« Rede über »die Juden« ein »Missbrauch der Philosophie«; aber: »Trotzdem ist es eine Dummheit, zu behaupten, Sein und Zeit sei in seiner semantischen Tiefenschicht faschistisch. […] Dass Heidegger zugleich ein ziemlich mieser, rechthaberischer Charakter war, der Gefühle wie Mitleid und Güte kaum zu kennen schien, ist leider auch wahr.«

Diese rhetorische Figur, wenn man so will, findet sich in allen drei Dialogen. Sie scheint eine Ausblühung eines Automatismus zu sein, der angesichts der Schuld abläuft. Die Dialoge werden dadurch auch emblematisch für die dramatische Schizophrenie, in der das deutschsprachige Nachkriegsmilieu changierte und zu der man bis heute verdammt zu sein scheint. Wie Peter Strasser in einem Kapitel seines Buchs »Ein Quäntchen Trost. Nachträge zur Glückseligkeit« (2015) um sich selbst ringt, erinnert daran.

Dort heißt es im Kontext einer seltsamerweise unendlich ausgedehnten Diskussion um Heideggers Schwarze Hefte: »Ohne Heideggers Obsession verharmlosen zu wollen, muss eingeräumt werden, dass es der Autor des Humanismusbriefs (1946/1947) war, der unbeirrt um die ursprüngliche Würde und Autonomie der Philosophie gerungen hat. Andere ernteten weltweit Applaus dafür, dass sie die Philosophie für tot erklärten, zur Begriffsanalyse verdünnten, auf Wissenschaftstheorie verengten oder sich, statt zu philosophieren, mit Ideologiekritik begnügten. Im Widerstand gegen den Zeitgeist liegt nicht zuletzt ein Teil der zeitlosen Bedeutung von Heidegger. An seiner Größe werden die Schwarzen Hefte ebenso wenig etwas ändern wie an seiner Erbärmlichkeit; sie werden uns indes seine persönliche und philosophische ›Irre‹ näherbringen.«

Später in derselben Schrift wirft Peter Strasser dann dem Feuilleton (dessen Autoren er als »Treiber« bezeichnet) vor, es ergehe sich hinsichtlich der öffentlichen Debatte über Heideggers Heftchen in einem »rhetorischen Amoklauf«. Sicher ist da etwas dran.

Allerdings fragt man sich als Leser, um wen es eigentlich geht, um wessen »Obsession«, gibt Strasser sich doch rhetorisch auch nicht gerade zurückhaltend, wenn er von Heidegger spricht, »der unbeirrt um die ursprüngliche Würde und Autonomie der Philosophie« gerungen habe in seinem offenbar als heldisch zu denkenden »Widerstand gegen den Zeitgeist«, sodass die Schwarzen Hefte an seiner »zeitlosen Bedeutung« letztlich nichts ändern.

Um wessen »Erbärmlichkeit« und um wessen »Größe« ringt nun Peter Strasser eigentlich, der im Gespräch mit Bulucz über das Schwinden von literarischem Interesse und literarischer Bildung sagen wird: »Wahrscheinlich war es ein Irrtum des demokratischen Lehrbetriebs, dass man dem Volk – so die pädagogische Maxime im Geiste des Humanismus – unsere Klassiker nahebringen sollte«; oder: »Wir haben unsere Tradition ohnehin längst verloren und daher musealisiert.«

Man will still über die deutschsprachigen Intellektuellen trauern, die Heidegger, aus ihrem plumpen Bedürfnis, angesichts der Welt doch ein bisschen Recht haben zu müssen, zur hypertrophen Gesinnungsprüfung des Geistes machten. Sie degradierten dabei Heideggers Werk zum symbolischen Ort, an dem sie ihr eigenes Ressentiment gegen die Welt zur Sprache bringen bzw. auskosten.

 

Perpetuum experimentum

 

Doch die Reihe »Einsichten im Dialog«, die in der Frankfurter Edition Faust erscheint, will weder als Sammlung von Streitgesprächen noch als peinliche Befragung daherkommen. Vielmehr ist Alexandru Bulucz daran interessiert, den Bezirk des Denkens zu erweitern. Denn sosehr die Gespräche zwischen intimer Anteilnahme, kritischer Nachfrage und philosophischer Deliberation oszillieren, so sehr ermöglichen sie es dem Leser, der Genese des Gedachten nachzuspüren, zu der etwa Hans-Jörg Rheinberger selbstkritisch anmerkt: »Wenn man so über die eigene Biographie nachzudenken aufgefordert wird, muss man sich verdammt davor hüten, die Dinge zu linear zu sehen und so zu tun, als ob da alles logisch aufeinander gefolgt wäre.«

Überhaupt ist die Einsicht in die schwankende, mäandernde Dynamik der Erkenntnis ein wichtiges Motiv im dritten Dialog der Reihe, »Die Farben des Tastens«, den Bulucz mit dem Berliner Wissenschaftshistoriker führt und in dem es unter anderem auch um das wissenschaftliche Experiment geht.

Nicht nur das Bestätigen oder Widerlegen vorgefasster Thesen sei bei der Erzeugung von Wissen aus der Interpretation eines Experiments relevant, sondern es sei auch unerlässlich, »ein Gefühl und Aufmerksamkeit für das zu entwickeln, was am Rande des Geschehens sich bemerkbar macht, und in der Lage zu sein, es gegebenenfalls aufzugreifen«.

»Experimentaltrajektorien« habe der Wissenschaftler ebenso aufzubereiten wie etwa die Deutung eines positiven oder negativen Versuchsergebnisses. Das Repertoire der Fragestellungen, Erkenntnischancen usf. sei »eben nicht immer schon in der Ausgangsform oder im Keim enthalten, sondern es können hier auch Dinge in Erscheinung treten, die sich in dieser Form nicht ohne weiteres aus dem Dagewesenen ableiten lassen, die also keine Ableitungs- oder Ausfaltungszusammenhänge darstellen«.

Die Wissenschaft bzw. Wissenschaftler sollten daher eine Sensibilität für Serendipität entwickeln: »Das Stichwort, das die Dinge zusammenhält, ist ein hervorbringendes Tun mit einem gewissen offenen Ende. Man kann nicht um die Ecke sehen, man muss herumgehen, um sich überraschen zu lassen […]. Ich finde die meisten wissenschaftsphilosophischen Abstraktionen ungeeignet, um das wissenschaftliche Tun zu beschreiben.«

Stattdessen sollte sich die Rekonstruktion von Erkenntniswegen – oder Experimentaltrajektorien – dorthin wagen, wo die fertigen Begriffe noch auf der Kippe stehen, wo das Ringen um die Form und Formulierung des Wissens noch nicht abgeschlossen ist, wo man sich gewissermaßen noch darum bemüht: »Ich will diese Anstrengung selbst zur Sprache bringen, nicht, was dabei herauskommt.« Daher erprobt Rheinberger Sprechweisen und -möglichkeiten, »um an jenen Bereich des Vorbegrifflichen heranzukommen, wo die epistemischen Dinge noch im Entstehen sind«.

Im Umkreis solcher Ausführungen bringt der Fragesteller Alexandru Bulucz ein Leitthema der Reihe »Einsichten im Dialog« zur Sprache, nämlich die Frage nach dem Tod bzw. der Endlichkeit des Menschen. Obschon dies natürlich ein gewagtes Manöver sein kann, bringt es seine Gesprächspartner häufig dazu, zu reflektieren, was ihre professionelle Auseinandersetzung in der existenziellen Dimension zeitigt.

Rheinberger antwortet hierauf etwas verschlungen, aber kostbar ehrlich, bescheiden und klar. Zunächst zitiert er eine Maxime des im Übrigen sehr früh verstorbenen französischen Anatomen und Physiologen Xavier Bichat: »das Leben sei die Summe all jener Kräfte, die sich dem Tod widersetzen«. Anschließend führt er aus, was seine Bemühungen um Wissenschaftsgeschichte für ihn persönlich bedeuten: Sie habe etwas Tröstliches insofern, »als sie einem zeigt, wie letztlich auch ein kleiner Zuwachs an Wissen, auch wenn oder gerade weil er nicht auf geraden Wegen erreichbar war, in einen sich weiter differenzierenden und fortbewegenden Zusammenhang eingebunden ist und dort auf der einen Seite etwas Lokalisierbares, etwas Identifizierbares darstellt, auf der anderen Seite aber etwas, dem erst durch diesen größeren Zusammenhang sein Rang zuwächst. […] Diese Art von Endlichkeit, die aber durch ihre Inkrementalität an etwas teilhat, das über sie hinausgeht, an einer – nennen wir jetzt das große Wort – Unendlichkeit, hat etwas sehr Beruhigendes. Wir haben es hier aber mit einer Unendlichkeit zu tun, die vollkommen diesseitig ist.«

 

»Ich habe dies alles so noch nie gesagt. Gut, dass Sie gefragt haben.«

 

Das Gespenst von Boethius sucht nicht nur in den obigen Worten heim. Trost – als die letzte Autosuggestion von souveräner Selbsthabe – ist ja auch etwas, das den Grazer Meisterdenker Peter Strasser in stillen wissenden Triumph versetzt, wenn er in seinem Buch Die Welt als Schöpfung betrachtet meint: »Sub specia aeternitatis […] ist alles Schreiben Ramsch. Es ist deshalb Ramsch, weil die Art, wie die Welt nun einmal funktioniert, unerbittlich dazu führt, dass alle Bibliotheken eines Tages ›verramscht‹ sind, gewissermaßen Weltramsch. Sie werden, wie alles andere auch, zu Staub geworden sein. […] Wenn wir uns durch unsere verramschten Herzenserzeugnisse hindurch sehen, dann sollten wir mitbedenken, dass der Ramsch, außer einer Bedrängnis der Verschleißkultur, auch ein Symbol ist: Wir alle werden eines Tages ›verramscht‹ sein, und dieser Tag ist nahe. So lange es jedoch dauert, sollten wir als Schreibende uns nicht gegen den Geist versündigen. Wir sollten uns nicht der Trostlosigkeit des Ramsches – das heißt: des Bald-schon-vergessen-worden-Seins – überlassen. Unser geheimer Horizont sei das unsterbliche Werk! […] Und dass mein Schreiben, obwohl es sich bereits im Entstehen dem Verramschen zuneigt, ein Quäntchen Trost bringt: den Trost, mir eine Sichtweise der Welt zu er-schreiben, worin sich noch im Vergessenwerden etwas realisiert, das der allesverschlingenden Zeit widersteht.«

Im Gespräch mit Dieter Henrich stellt Alexandru Bulucz ein Fehlen der Todesthematik im Werk seines 90-jährigen Gegenübers fest: »[…] wie mir scheint, bei Ihnen fehlt […] die ausdrückliche Thematisierung des Todes. Der Tod als Thema kommt bei Ihnen meist in den Nachrufen zu Wort, wobei es gut sein kann, dass ich mich da täusche.«

»Doch, doch, das ist richtig«, antwortet Henrich. »Ja, sie [die Frage] ist wirklich sehr persönlich. Aber ich will mich ihr gern stellen. Ich war elf Jahre alt, als mein Vater starb, und meine Eltern haben, bevor ich geboren wurde drei Kinder gehabt, die alle gestorben sind […]. Dieser Kindertod war für meine Eltern ein schreckliches Schicksal. Und dieser Tod ist irgendwie auch für mich immer präsent gewesen […]. Der Tod meines Vaters ist dann zu einem entscheidenden Ereignis in meinem Leben geworden. Denn ich war bei ihm, und sein letztes Wort hat er an mich gerichtet. Es war ein Segenswort. In gewisser Weise verstehe ich mein ganzes Leben als eine Erfüllung dieses seines letzten Wortes. Gerade weil mir der Tod so bedeutsam ist und insbesondere weil er mir etwas ist, das verlangt, im Ganzen all dessen, was wir denken können, verstanden und angenommen zu werden, wenn dies denn möglich ist, bin ich zurückhaltend gewesen, darüber zu sprechen.«

 

Paul-Henri Campbell

 

Einsichten im Dialog. Gesprächsreihe in der Edition Faust, herausgegeben von Alexandru Bulucz

 

www.editionfaust.de/56-0-Einsichten-im-Dialog.html


[1] Angesichts dieses Dialogs könnte man fragen, ob diese Denkfigur nicht auch im Werk Henrichs oft anzutreffen ist – etwa wenn er über Hölderlin spricht: »Dazu ist der Ausgang vom ›Seyn‹ vor aller Urteilung und vor allem Urteil zu nehmen, das besondere Urteil der Selbstidentifikation eingeschlossen. ›Seyn‹ ist insofern sowohl der einfachere wie auch der grundlegendere Gedanke. Von ihm her lässt sich dann aber sogleich, als erster abgeleiteter Gedanke, auch die Form des ›Ich bin ich‹ begreifen. Sie ist ›das passendste Beispiel zu diesem Begriffe der Urtheilung‹ – das passendste wohl deshalb, weil in ihr die Teilung, also die Differentsetzung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ineinssetzung (der Identifikation) der Differenten gedacht wird. Dies ist ein Sachverhalt, der sich am besten als die unmittelbare und nächste Folge der Urteilung verstehen lässt. Denn in ihm ist die Teilung ersichtlich als Teilung von solchen gedacht, die ursprünglich eines sind und insofern zueinander gehören. So geht aus ›Seyn‹ über dessen ›Urtheilung‹ [oder Taktung] das Ich des ›Ich bin ich‹ auch seiner Konstitution nach unmittelbar hervor‹ […] Wir sehen also, dass man bei der Auslegung von Hölderlins Text ziemlich weit kommt […].«