15. November 2015

Nachlassende Anziehungskraft

 

 

Das vorherrschende physikalisch-biologische Weltmodell hat einige ernst zu nehmende Kritiker unter den zeitgenössischen Philosophen


Nüchtern betrachtet – so könnte es scheinen –, besteht alles Leben aus Kohlenstoffverbindungen, und Werte, Sinn und Bedeutung sind nur Zugaben, die sich sicherlich bald naturwissenschaftlich vollständig herleiten lassen. Doch erstens sind solche Betrachtungen längst nicht immer nüchtern, sondern steigern sich oft in eine Feier der Sachlichkeit und/oder des Menschen als intellektueller Krone der Schöpfung und/oder einer Art Religion ohne Gott. Zweitens ist gar nicht klar, welchen Erkenntnisgewinn es bringen soll, wenn alles in kleinste Teilchen zerlegt wird. Und drittens ist das Verhältnis von Geist und Materie gar nicht so erschöpfend geklärt, dass Physiker und Biologen sich wie am siebten Tag zurücklehnen könnten.

 

Obwohl in der Philosophie nach einer ganzen Ära der medialen Vermittlung und der Interpretationskonstrukte heute wieder viel von Realismus die Rede ist, kommen die Botschafter der harten Fakten, die Naturwissenschaften, dabei erstaunlich schlecht weg. Der alte Wettbewerb um allgemeine Deutungshoheit geht mit dem immer noch wachsenden Einfluss der Neurowissenschaften, die inzwischen jede menschliche Regung bis zur Bedeutungslosigkeit verstehbar machen, in eine neue Runde.i Die „ansonsten so kritiklüsternen Philosophen“, so stand es vor Kurzem in der „Süddeutschen Zeitung“, hielten sich „gegenüber dieser Provokation merkwürdig bedeckt“. Doch das ist einerseits nicht ganz korrekt beobachtet, denn was die Neurowissenschaften erklären oder nicht erklären können, wird längst ausführlich diskutiert.ii Und andererseits gibt es sicher auch Gründe, sich nicht auf jede Provokation einzulassen. Philosophische Skepsis ziehen ja ohnehin weniger die bestaunten empirischen Beobachtungen aus bildgebenden Verfahren auf sich, sondern daraus abgeleitete Geltungsansprüche und Thesen, etwa was den Begriff der Freiheit betrifft: Denn je kleiner das Gesichtsfeld, desto pixeliger das Bild.

 

Eingebettet sind die Neuro-Disziplinen in ein komplexes naturalistisches Weltbild, das die Philosophen Markus Gabriel, Thomas Nagel und Michael Hampe nun jeder auf seine Art entschieden angreifen. Dabei gibt es zwar Schnittmengen und Übereinstimmungen, doch die Unterschiede sind weitaus deutlicher: Gabriel geht es um Vielfalt und Variation unserer Weltzugänge. Nagel ist von tiefer Skepsis erfasst, dass Physik und Evolutionstheorie wahrheitsfähige Erkenntnisse liefern. Der in Zürich lehrende Michael Hampe schließlich möchte die Philosophie von ihrem neuzeitlichen Erbe kurieren, sich methodisch zu viel Wissenschaftlichkeit aufzuerlegen. „Man kann Philosophie nicht lernen wie Physik“, lautet sein Credo. Im Modus des Behauptens, in dem die empirischen Wissenschaften sich ihrer Erkenntnisgegenstände prinzipiell zu vergewissern suchen, könne die Philosophie nicht gegen ebendiese Wissenschaften bestehen. Deshalb besinne sie sich besser aufs Narrative, auf ihre sokratischen Wurzeln, oder sie verliere notgedrungen weiter an Bedeutung gegenüber den zunehmend einflussreichen Erklärungsmodellen der Naturwissenschaften.

 

Mit einem Namen, der alle drei Denker verbindet, schließt sich dabei immerhin ein kleiner Kreis: Für Michael Hampe ist Richard Rortys Denken Vorbild und Programm. Thomas Nagel unterhielt mit dem 2007 Verstorbenen einen generationenlangen Dissens. Und bei Markus Gabriel gehört Rorty schlicht auf die Liste der verdammten Konstruktivisten.



Lets talk about the way I feel/
The whole wide world’s become unreal

(The Godfathers)


Hinter tausend Feldern keine Welt

„Da die Menschen nun einmal in dieser riesigen, mal gütigen, mal grausamen Welt leben und in den unermesslichen Himmel über ihnen blicken, stellen sie sich von jeher eine Fülle von Fragen. Wie können wir die Welt verstehen, in der wir leben? Wie verhält sich das Universum? Was ist das Wesen der Wirklichkeit? Woher kommt das alles? Braucht das Universum einen Schöpfer? [...] Traditionell sind das Fragen für die Philosophie, doch die Philosophie ist tot. Sie hat mit den neueren Entwicklungen in der Naturwissenschaft, vor allem in der Physik, nicht Schritt gehalten. Jetzt sind es die Naturwissenschaftler, die mit ihren Entdeckungen die Suche nach Erkenntnis voranbringen.“

 

So zitiert der Bonner Philosoph Markus Gabriel („Warum es die Welt nicht gibt“) den „als Intellektueller weit überschätzten“ Astrophysiker Stephen Hawking. Gabriel möchte die Weltzugänge und Geltungsansprüche der Geisteswissenschaften, der Künste und einer richtig verstandenen Religion gegenüber den Naturwissenschaften sichern.

 

Sein Argument lautet, weder das Universum noch die es bevölkernden Wesen lassen sich in der Sprache der Physik — wie in jeder anderen — erschöpfend beschreiben. Hawking folge hier der simplen Vorstellung, die Welt sei die Summe der Gegenstände der sogenannten Außenwelt, des Universums. Die Philosophie unterscheide jedoch „schon lange (spätestens seit Platon und Aristoteles) zwischen dem Universum im Sinne des Gegenstandsbereichs der Physik und dem, was wir Modernen „die Welt“ nennen. Und wir wissen schon, dass das Universum eine ontologische Provinz ist, was Hawking nicht aufgefallen ist, da um ihn (als Physiker) herum alles zur Physik wird.“

 

Es charakterisiert den Provinzler, dass er seine kleine Welt für das Ganze hält. Doch auch das Ganze ist bei Gabriel nicht mehr, was es einmal war: Mag das Universum zwar der Gegenstandsbereich der Physik sein – es gibt viele Gegenstandsbereiche, und die Welt ist weder die Gesamtheit der Gegenstände oder Dinge noch die Gesamtheit der Tatsachen (Wittgenstein) – sie ist der Bereich aller Bereiche (in Anlehnung an Heidegger). Der „Boden der Tatsachen“ weist demnach Strukturen auf, die Gabriel mit seinem zentralen Begriff Sinnfelder nennt, „Orte, an denen überhaupt etwas erscheint. Alles, was existiert, erscheint in einem oder mehreren Sinnfeldern, weil es unterschiedlichen Gegenstandsbereichen angehört.“ Daraus folgt schließlich auch, dass es keine einzelne, privilegierte Beschreibung eines Gegenstandes geben kann. Folglich auch und erst recht keine, die dem Bereich der Naturwissenschaften entstammt.

 

Der Irrtum des naturwissenschaftlichen Weltbilds liegt nach Gabriel aber darüber hinaus darin, dass das Ganze ohnehin nicht existiert. Der Titel „Warum es die Welt nicht gibt“ soll darauf hindeuten: „Meine eigene Antwort auf die Frage, was Existenz ist, läuft darauf hinaus, dass es die Welt nicht gibt, sondern nur unendlich viele Welten, die sich teilweise überlappen“, schreibt Gabriel schließlich auch mit einer aufschlussreichen Kursivierung.

 

Viele Welten – keine Welt. Es könnte der Anschein entstehen, als gäbe es für diese doppelte Formel keine Vorläufer. Doch das ist natürlich nicht so. In Variationen klingt das erste der Motive zum Beispiel bei Habermas an („Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen“) oder auch bei Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, und schon Robert Musil macht diesen Gedanken in seiner überraschenden Überleitung von der Sprache der Meteorologie in die Alltagssprache im ersten Absatz des „Mannes ohne Eigenschaften“ anschaulich: als Pluralismus der Weltzugänge, der einen vermeintlich privilegierten „wissenschaftlichen“ Zugang deklassiert.

 

Auch das zweite Motiv, die Frage nach der Einheit der Welt, drückt sich schon bei Habermas etwa in der Formulierung aus: „Das Seiende im Ganzen oder die sittliche Welt als solche bilden keine möglichen Gegenstände der Erkenntnis“. Bei Martin Seel fungiert sie unter dem Schlagwort „Holismus ohne Ganzes“, und eines der Leitmotive Theodor W. Adornos – gegen Hegel gerichtet – lautete: Das Ganze ist das Unwahre. Auch bei Richard Rorty finden sich passende Textstellen (hier 1972): „Ich möchte behaupten, ,die Welt‘ ist entweder ein völlig leerer Begriff für die unbeschreibbare Ursache des Sinnlichen und das Ziel des Denkens, oder es handelt sich um einen Namen für die Dinge, die zurzeit nicht der Erforschung unterliegen ...“.

 

Doch notgedrungen greift Gabriel selbst immer wieder auf das Konstrukt eines Weltganzen zurück – wofür er Jürgen Habermas und auch Thomas Nagel ausdrücklich kritisiert. Wir denken über die Welt ohnehin fortwährend nach, meint Gabriel, sie existiere also offenbar zumindest als Gedankeninhalt. Doch auch dieser scheinbare Widerspruch ist mit einem ontologischen Kunstgriff schnell aus der Welt geschafft: Wenn die Welt in unseren Gedanken existierte, könnten unsere Gedanken nicht in der Welt existieren, lautet Gabriels gewitzter Schluss.

 

Das wirft die Frage nach der Beschaffenheit der Sinnfelder auf. Ist die Unterteilung des zu Erkennenden in Bereiche oder Provinzen eine sprachliche – auf irgendeine Art durch die Erkenntnissubjekte hergestellte? Ist sie „eine des Redens“?

 

An dieser Stelle kommen Gabriels Großgegner ins Spiel: Konstruktivismus und Postmoderne hätten uns lange Zeit glauben gemacht – und mit ihnen der wissenschaftliche Neurokonstruktivismus –, dass unser Wissen auf die Funktionen des Erkennens, Sprechens und unserer Sinne bezogen sei.

 

Die Wissenschaft habe uns gelehrt, dass die Dinge an sich nicht so seien, wie sie uns erscheinen. „Ein Realismus gilt in diesem Licht als naiv, da man annimmt, dieser vertraue etwa unseren sinnlichen Eindrücken und alltäglichen Meinungen.“ Für Gabriel gilt hingegen, dass wir „Dinge an sich erkennen, wenn wir überhaupt etwas erkennen“. Leider erläutert das Glossar nicht, was unter einem „Ding an sich“ zu verstehen ist. Im Text heißt es: „Der Neue Realismus behauptet vor diesem Hintergrund, dass jede wahre Erkenntnis Erkenntnis eines Dinges an sich (oder einer Tatsache an sich) ist. Eine wahre Erkenntnis ist keine Halluzination oder Illusion, sondern eine Erscheinung der Sache selbst.“

 

Gerade die Naturwissenschaften seien für den schädlichen Einfluss des Konstruktivismus verantwortlich. Lange Zeit hätte sich die Philosophie „gleichsam von der modernen Naturwissenschaft [...] einschüchtern lassen.“ Allen voran vom Gehirn- oder Neurokonstruktivismus, die uns suggerierten, „in Wahrheit gäbe es nur physische Teilchen ..., die unser Gehirn dann unbewusst zu einer Art interaktivem Videospiel verknüpft, das wir kollektiv halluzinieren.“ Besonders die Habermas'sche Philosophie macht Gabriel für allzu große Zugeständnisse gegenüber dem Naturalismus verantwortlich – was eher nicht gerecht ist.iii

 

So lustvoll Gabriel seine Gegenspieler demontiert, so sehr ist er auf einen radikalen Konstruktivismus fixiert. Denn in einer gemäßigteren Fassung sind Konstruktivismus und Realismus ja durchaus vereinbar. Nur ein radikaler Konstruktivismus behauptet, dass der Erkennende die Eigenschaften des erkannten Gegenstands gleichsam hervorbringt. Dies trifft aber besonders für Bestimmungen innerhalb der sozialen Ordnung zu. Michael Hampe etwa macht eine Unterscheidung, die Gabriels strikter Gegenüberstellung entgeht. Er verweist auf die unterschiedlichen Objektivitätsansprüche bei der Beschreibung von Objekten unterschiedlicher Klassen: „Nichtmenschliche Gegenstände reagieren [...] nicht auf die allgemeinen Beschreibungen, die von ihnen gegeben werden, wohingegen Menschen sie sogar zurückweisen können.“ iv

 

Eine entsprechende Diskussion von miteinander konkurrierenden Beschreibungen, wie sie sich in den Perspektiven der ersten, zweiten und dritten Person ausdrücken, findet bei Gabriel nicht statt. Dagegen geht der Neue Realismus „davon aus, dass wir die Welt so erkennen, wie sie an sich ist.“

 

Was heißt es also, ein Ding an sich zu erkennen? Bedeutet nicht, etwas „an sich“ erkennen, es in der einen relevanten Hinsicht erkennen oder aus der einen relevanten Perspektive? Bei Kant sind Dinge an sich nicht Gegenstand unserer Beobachtung oder Untersuchung, sondern werden nur hypothetisch ins Spiel gebracht. Bei Gabriel erscheint jedes Ding zwar in vielen Sinnfeldern, aber wozu braucht es dann ein Ding an sich? Alle Bestimmungen außer seiner Existenz als Ding an sich erhält es ja mittels der Sinnfelder. Was es ist, ist es durch Sinnfelder. So wirkt das Etikett „Ding an sich“ wie die Aufschrift „laktosefrei“ auf Produkten, die auch schon vor der Etikettierung niemals Laktose enthielten.

 

Mit seinem Realistischen Manifest möchte Gabriel „sowohl am Begriff des Wissens als auch am Begriff der Wahrheit im eigentlichen Sinn“ festhalten. Aber hat die Philosophie insgesamt den Begriff der Wahrheit oder den des Wissens im „eigentlichen Sinn“ jemals fallen lassen? Solche mit Verve eingerannten Türen stehen eigentlich schon weit offen. Für den auch politisch umkämpften Begriff des Realismus bringt ihm seine Philosophie jedoch bereits Ranschmeißer aus der rechten Ecke ein, in deren Umfeld man ein „konservatives“ „Pathos der Wirklichkeit“ für sich beansprucht. Die Anziehungskraft eines normativen Soseins bestand halt immer schon auch in der Lizenz zum Abbruch unliebsamer Diskussionen.

 

Nichts ist so umkämpft wie die Realität. Vom Abschuss eines Passagierflugzeugs über Kriegsgebiet bis zum Einfluss des Fleischkonsums auf das Weltklima. Vom Weltgeschehen im Großen wie dem Amerikanischen Bürgerkrieg (bei dem schon der Name umstritten ist), bis in die kleinsten Verästelungen eines Familienstreits. „In einer historischen Darstellung“, schreibt Bernard Williams, „kann, ebenso wie in einer Alltagserzählung, jede Aussage wahr sein und dennoch die falsche Geschichte erzählt werden.“

 

Ist der Zuwachs an wissenschaftlichem und technischem Know-how Aufklärung? Nützt er oder schadet er den Menschen? Ist unsere Rationalität eine verlässliche Urteilskraft? Ist das Glück echt, das wir fühlen, und wie unterscheiden wir es von dem unechten Glück, das uns auch manchmal als solches erscheint? Je allgemeiner die Begriffe sind, desto weiter wird ihr Realitätsbezug.

 

Und wo immer Dinge an sich in solchen Sinnfeldern erscheinen mögen, sie geben sich nicht durch Evidenz zu erkennen. Vielleicht sieht man genau daran, dass der Neue Realismus neutral bleibt, was den Wahrheitsgehalt derartiger Erzählungen betrifft. Es gibt Dinge an sich, aber das bringt unsere alltäglichen Diskurse nicht voran. Warum auch? Das Ding an sich enttäuscht nur dann, wenn man zu viel von ihm erwartet hat.

 

 

Ralf Schulte


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i Jürgen Habermas: »Freiheit und Determinismus«: »Man fühlt sich ins 19. Jahrhundert zurückversetzt.«

ii Eine Zusammenfassung findet sich etwa in dem Band »Neurowissenschaft und Philosophie«; www.textem.de/index.php?id=2105

iii Siehe oben: Fußnote i

iv So auch Martin Seel: »Alle Erkenntnis des Wirklichen, nicht aber alles als wirklich Erkannte ist unausweichlich konstruktiv.« Beide, Seel und Hampe, berufen sich dabei auch auf Ian Hacking.