14. Januar 2004

Sein ist nicht Seyn

 

 „Nicht versöhnt“ hieß es früher eine Zeit lang. Multipler performativer Sprechakt. Und ist dennoch an MS zugrunde gegangen. Begriffszerstäubung. Ein Hauch semantischen Weihrauchs zieht manchmal noch vorbei. Währenddessen ist schon wieder ein neuer mobiler Wortpark unterwegs. Der Krönungs- und Destitutionsgeschichten neu erzählt. Was jemand falsch gemacht hat. Worin er seiner Zeit voraus war.

Martin Heidegger etwa begleitet Peter Sloterdijk schon lange Zeit, in der „Kritik der zynischen Vernunft“ waren es vor allem die Kapitel über das „Man“ aus „Sein und Zeit“, die ihn faszinierten, heute ist es die idyllische Ekstase der so genannten Kehre, die ihn ausrüstet. Schwerpunktverlagerung, weg von der Zeit, hin zum Raum, zu dem, was Sloterdijk selbst als „Sphären“ zu beschreiben versucht. Originäre Gestimmtheiten (emotional, klimatisch), die immer schon mehr als ein bloßes Einzelsubjekt betreffen. Grund genug, von dem ressentimentbehafteten Begriff der Nicht-Versöhnung abzulassen.

Konstruktiv lässt sich von Adorno heute nichts mehr lernen. Aber vielleicht vom Philosophenfänger Heidegger? Der schlau genug war, das große rettende Ereignis in die Zukunft zu verlagern, dem man sich mit deutsch-griechischer Gründlichkeit annähern könnte, wenn man nur bereit wäre? Liest man „Absturz und Kehre“, die diese „Vorträge und Aufsätze“ eröffnende Rede über den Stubenhocker aus Meßkirch, dann will man nicht so recht begreifen, was Sloterdijk an Heidegger noch zu retten fand. Aber vielleicht sind es manchmal mehr die Gesten als die Inhalte, die überzeugen. So etwa das Heidegger’sche prophetische Post-it: „Wir haben noch nicht …“ Das Wichtigste steht noch aus: Das SEIN. Trivial gesagt heißt das, dass es noch mehr unter der Sonne gibt, als das, was sie bislang hat sehen lassen. Gotthard Günther zum Beispiel hat sie die Augen darüber geöffnet, dass es eine Logik gibt, die über eine bloße Zweiwertigkeit à la Subjekt-Objekt-Beziehungen hinausgeht. Für die einen würde das die Aufgabe vorgeblicher Eindeutigkeiten bedeuten. Für Leute wie Sloterdijk eine Chance im technologisch-medialen Zeitalter, doch noch einmal links sein zu können einfach dadurch, dass man mit Links (der Emanation des Archivs) arbeitet. Das ist die noch ungeschriebene Straßenverkehrsordnung der von ihm so genannten „Homöotechnik“, von der er eine „nicht-herrische Form von Operativität“ erwartet.

Die frohe Botschaft lautet also, dass der Mensch (zum Beispiel auf dem Feld der Biotechnologie) gar nichts falsch machen kann, weil er immer schon ein durch Technik hervorgebrachtes Wesen war. Es gibt hier keinen Sündenfall. Oder eine unüberschreitbare Grenze wie noch bei Luhmann, den er in diesem Band respektvoll verabschiedet. „Nach Luhmann“ existieren heißt hier re-essentialistisch: „Diese [Homöotechnik] kann ihrem Wesen nach nichts ganz anderes wollen als das, was die ,Sachen selbst’ von sich aus sind oder werden können.“ Wer’s glaubt, wird selig. Aber vielleicht stimmt es ja. Trotzdem weiß niemand, was das heißt. Oder man sitzt schon in Sloterdijks sphärischem Bimmelzug auf dem Weg in den „Menschenpark“. Und der wird bestimmt im Schwarzwald stehen. Auf einer Lichtung.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=1>Peter Sloterdijk, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger. Frankfurt 2001</typohead>