16. Juli 2015

Theoriecocktail

 

In der Zeit um 1968, die Ulrich Raulff erst vor Kurzem ‚Die wilden Jahre des Lesens’ genannt hatte, entwickelten Bücher ein bis dahin ungekanntes, ja geradezu explosives Potenzial. Während eine Hälfe der Studenten, bewaffnet mit Molotowcocktails, den Weg auf die Straße wählte, um die als verkrustet empfundene Enge der bundesrepublikanischen Gesellschaft aufzusprengen, versorgten sich andere mit Taschenbüchern, um das ebenso festgefahrene Denken mit Theoriecocktails zu bombardieren. Sicher gab es auch Schnittmengen zwischen beiden Gruppen – so hatte Michel Foucault seine eigenen Bücher 1975 in einem Interview als „Molotowcocktails“ bezeichnet und damit Theorie und revolutionäre Praxis zumindest metaphorisch ineinander verschränkt. Der Mix, aus dem sich diese von Hans Schmoller 1974 als ‚paperback revolution’ bezeichnete Theorie-Revolte zusammenbraute, umfasste vor allem die neuen Denker aus Frankreich, die unter den catchwords ‚Strukturalismus’, ‚Poststrukutralismus’ und ‚Dekonstruktion’ das Universum der sogenannten ‚suhrkamp culture’ bevölkerten.

 

Der Historiker Philipp Felsch hat dieser Revolte, die weniger ein Aufstand der produktiven Schreiber als vielmehr eine der besessenen Leser war, mit seinem bei C.H. Beck erschienen Buch Der lange Sommer der Theorie nun eine ebenso geistreiche wie unterhaltsame Retrospektive gewidmet. Der Band wurde dann auch gleich für den Buchpreis der Leipziger Buchmesse in der Rubrik Sachbuch nominiert, der am 12. März dieses Jahres vergeben wurde (gewonnen hat schließlich jedoch ein anderer). Gleich auf den ersten Seiten nimmt Felsch die besondere Aura vorweg, die seinen Untersuchungsgegenstand in den turbulenten 60er und 70er Jahren umgeben hatte: „Theorie war mehr als eine Folge bloßer Kopfgedanken; sie war ein Wahrheitsanspruch, ein Glaubensartikel und ein Lifestyle-Artikel.“ Das Genre der Theorie, so Felsch, sei damals angetreten, gegen die universitäre Philosophie und ihre totalen Wahrheitsansprüche aufzubegehren, wollte diesen ein subversives Wissen entgegenstellen und habe dabei vor allem an disziplinären Demarkationen gerüttelt. Statt einer nach dem traditionellem Reinheitsgebot des kategorialen Denkens gebrauten Wahrheit waren nun hochprozentige Mixturen gefragt.

 

Und genau so wurden die neuen billigen Taschenbücher schließlich auch gelesen: wild durcheinander, miteinander und gegeneinander. Sie wurden in den Jackentaschen vom Hörsaal in die verrauchten Kneipen getragen und zirkulierten bei den neu verabredeten Diskussions- und Lektürekreisen. Die schnell abgegriffenen Bändchen konstituierten dabei die um sie herum gebildeten ‚Denkkollektive’ ihrer Leser und formierten deren spezifischen ‚Denkstil’ – um zwei Begriffe des polnischen Wissenschaftstheoretikers Ludwik Fleck zu verwenden. Es gehört vor allem zur Leistung von Felschs Studie zu zeigen, dass Theorie als Genre in diesem Prozess nicht als reines Ideengebäude in den Köpfen ihrer Rezipienten entstand, sondern vielmehr vermittels einer konkreten und materiell geerdeten Kultur funktionierte. Günstige und schmale Paperbacks ersetzten die unerschwinglichen Gesamt- und Prachtausgaben und spülten das Wissen damit von der Bibliothek auf die Straße. Xerox-Kopien bereiteten indes eine neue Geisteshaltung zum Copyright vor, die in unserer digitalen Gegenwart mehr denn je zur Diskussion auffordert und von ihrem revolutionären Gehalt bis heute nichts eingebüßt hat. Daneben unterstrichen die knalligen Regenbogenfarben der edition suhrkamp-Bände den Pop-Art-Charakter, den die Theorie mittlerweile versprühte und sie schließlich in die Arme der Konzeptkunst trieb.

 

All diese Entwicklungen schienen dabei um das kleine West-Berliner Verlagshaus Merve zu kreisen, das 1970 von einem Herausgeberkollektiv um Peter Gente gegründet wurde. Gente trieb die Taschenbuch-Revolution gewissermaßen auf die Spitze: Als wahnsinniger und zwanghafter Theorie-Sammler trug er abseitig publizierte Texte von meist französischen Denkern zusammen und veröffentlichte diese in seiner weißen und mit farbiger Raute bedruckten Merve-Reihe. Die Bändchen von Althusser, Foucault, Deleuze und Baudrillard übten eine verführerische Ausstrahlung auf die lesesüchtigen Theorie-Junkies in Deutschland aus. Sie wurden weniger gelesen als vielmehr verschlungen, teilweise wohl aber auch nur unverdaut und dekorativ ins Regal gestellt. Dabei gingen die Seiten mit noch geringerer Halbwertszeit aus dem Leim als die Suhrkamp-Paperbacks, was in den Zeiten des Theorie-Chic durchaus zum Disktinktionsmerkmal werden konnte und auf den intensiven Gebrauch der Heavy User hindeutete. Denn so wie Schallplatten ohne Knistern verraten, dass sie nie gehört wurden, so kündete ein unverknickter Merve-Band mit noch intaktem Buchrücken bereits von Weitem davon, nicht ‚richtig’ gelesen worden zu sein.

 

Philipp Felsch ist mit Der lange Sommer der Theorie eine wirklich lesenswerte Studie der bundesrepublikanischen Lesekultur gelungen, die direkt an Ulrich Raulffs Ende letzten Jahres unter dem Titel Wiedersehen mit den Siebzigern veröffentliche Lese-Autobiografie anknüpft. Es ist die Geschichte einer Zeit, die zwar nur wenige Jahrzehnte zurückliegt, beim Blick auf Bologna-Reform, Uni-Cafés und Tablet-Kultur jedoch unendlich weit weg erscheint. Und auch wenn der slowenische Philosoph Slavoj Zizek im Angesicht der Finanz- und Wirtschaftskrise gefordert hatte, wieder zur Theorie zurückzukehren, anstatt mit Occupy auf die Straße zu gehen – ein Appell, mit dem Adorno den revolutionshungrigen Studenten bereits 1965 den Magen verdorben hatte –, scheinen die Jahre des wilden Lesens vorerst vorbei zu sein.

 

Patrick Kilian

 

 

Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte, 1960-1990, München: Verlag C.H. Beck 2015; 327 S., gebunden im Schutzumschlag, ISBN: 978-3-406-66853-1.

 

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Vergleiche auch:

 

Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart: Klett-Cotta 2014, Rezension: www.textem.de/index.php

 

Sowie die Rezension zu Philipp Felschs Buch von Björn Hartwig ebenfalls auf Textem unter dem Titel „Von der Diskussion zum Diskurs“: www.textem.de/index.php

 

Zum Begriff des „Molotowcocktail“ bei Foucault siehe: Patrick Kilian: Minengürtel oder unterirdische Stollen? Anmerkungen zu Foucaults Politik des Bergbaus, in: foucaultblog, hg. v. Philipp Sarasin et al. (05.07.2015), DOI:10.13095/uzh.fsw.fb.107, Link: www.fsw.uzh.ch/foucaultblog/featured/107/minenguertel-oder-unterirdische-stollen-anmerkungen-zu-foucaults-politik-des-bergbaus