15. Juli 2015

Nichts bleibt und nichts verschwindet

 

Der Sammelband „Lernen mit den Gespenstern zu leben“ – Das Gespenstische als Figur, Metapher und Wahrnehmungsdispositiv (Neofelis Verlag, Berlin) versammelt die Beiträge der gleichnamigen Tagung im Herbst 2013 in Frankfurt. Nicht nur der Titel der Tagung bzw. des  vorliegenden Sammelbands, sondern auch die einzelnen Beiträge beziehen sich dabei, mal explizit, mal lose, auf das 1993 in Deutschland erschienene Buch Jacques Derridas Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die Internationale (Suhrkamp, Franfurt a. M.). In jenem Text folgt Derrida der Spur von Marx nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und befragt dabei wie Hamlet seinen Vater auf der Terrasse von Elsenor, ein Gespenst, dessen Klopfzeichen es nun zu deuten gilt.

 

Hat sich der 1999 folgende Sammelband Ghostly Demarcations – A Symposium of Jacques Derridas ,Specters of Marx‘ (Verso Books, London) anhand von Beiträgen u. a. von Gayatry Chakravorty Spivak, Toni Negri, Werner Hamacher und Frederic Jameson noch an einem Wechselspiel von Kritik und Hommage sowie Derridas Marxismus an sich abgearbeitet, so stellt der 2015 im Neofelis Verlag erschienene Sammelband also das Gespenstische selbst in den Mittelpunkt.

Betrachtungen zur Hantologie kommen dabei aus den Feldern der Philosophie, der Geschichte, der (Stadt-)Soziologie sowie der Theater- und Medienwissenschaft.

 

Die Beiträge führen das Gespenstige als Denk- und Erfahrungsmodell ein. Aus ihrer Betrachtungsweise unterschiedlicher Dispositive spricht eine Dialektik, die mit Walter Benjamin ein weiteres Gespenst auf den Plan ruft. Im Beitrag von Peter Herr „Anhaftungen der Shoah. Der Dibbuk als Supplement humanistischer Ethik“ etwa taucht Benjamins Spruch der Chassidim als Antwort auf die Frage, was wird anders, wenn der Messias gekommen ist, auf (nach Giorgio Agambens Die kommende Gemeinschaft zitiert): „Alles wird sein wie hier – nur ein klein wenig anders.“[1] Die Anekdote kommt zu einer Beschreibung, die den Geisteswissenschaften heute und den in diesem Band versammelten Beiträgen eine gute Beschreibung ihrer Arbeit bietet: „Alles mag da stehen, wie es stand, aber der Schleier wallt, und unmerklich verschiebt sich’s darunter. Es ist ein Wechseln und Vertauschen; nichts bleibt und nichts verschwindet.“

 

So sind viele Texte aktualisierte Variationen des Themas des Gespenstigen. Hamlet wird, ebenfalls auf Derridas Buch verweisend, in verschiedenen Texten aufgerufen, ebenso wie andere bekannte Geister verschiedener Medien (der Film und sein Vorführer, Wiedergänger der Weltkriege, Dracula). Viele Texte lassen den Blick vor allem zurückschweifen, wobei manche Beiträge ein wenig hinter die aufgerufenen (Sekundär-)Textgespenster fallen. Lediglich im medienwissenschaftlichen Abschnitt wird nicht hauptsächlich erstaunt gefragt „Who’s there?“, stattdessen stellt Eva Holling in ihrer Einleitung fest; „They’re here!?“ Leonhard Fuests Beitrag „Die Träume des Cyborg. Für eine Zoogrammatik der Heimsuchung“ wirft dann auch tatsächlich einen Blick nach vorn und fragt nach dem „Denken des zukünftig Gespenstischen, wo die Maschine nicht mehr zur gespenstischen Erscheinung verhilft, sondern Teil eines post-gespenstischen Körpers ist, [wodurch …] die durch Medien geschulte Wahrnehmung zu neuen Erkenntnissen führen [mag].“ (S. 301)

 

Von diesem bereits erlernten Umgang mit den Gespenstern hätte der Band auch in anderen Abschnitten profitieren können. Dennoch ergibt sich ein guter Überblick zu aktuellen Ansätzen der Geisteswissenschaften im Umgang mit Gespenstern. In einer Zeit, die immer mehr Dystopie gewordene Hoffnungen anhäuft (aktuell: #ThisIsACoup/Europa), wird der Umgang mit Wiedergängern ohnehin unumgänglich.

 

Björn Hartwig

 

Lorenz Aggermann, Ralph Fischer, Eva Holling, Philipp Schulte, Gerald Siegmund (Hrsg.): „Lernen mit den Gespenstern zu leben“ – Das Gespenstische als Figur, Metapher und Wahrnehmungsdispositiv in Theorie und Ästhetik, Neofelis Verlag 2015

 

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[1]   Walter Benjamin: „Denkbilder. In der Sonne.“ In:  Tillman Rexroth (Hg.): Walter Benjamin – Gesammelte Schriften IV.1, Suhrkamp, 1991, S. 419 f.