15. April 2015

Von der Diskussion zum Diskurs

 

Was man in Deutschland nicht tun kann, die Revolution nämlich, das gibt man sich zu denken auf.

Cord Riechelmann: „Elite oder Avantgarde“. In: Text Revue, Heft 8, Berlin 2010

 

Die Bücher mit der Raute hatten, das zeigt das Buch Philipp Felschs, in der Geschichte des Merve Verlags schon immer eine Menge Fürsprecher und Kritiker: Auskenner, Vorweg-Renner und altgediente Elitephilosophen, die sich weigerten, ihre edlen Gedanken zwischen Taschenbuchdeckeln veröffentlicht zu sehen. Der lange Sommer der Theorie, der im gleichnamigen Buch in der Zeit zwischen 1960–1990 verortet wird, beginnt mit einer Veränderung der Lesegewohnheiten. So bei Peter Gente, der Adornos Minima Moralia „also gute fünf Jahre mit [sich] rumgeschleppt [hat]“. „Jeden Tag, immer bei mir, so ein richtiges Vademekum.“ Dass der Umschwung von Philosophie zu Theorie sich (auch) über das Format der Texte vollzieht, findet in dieser Praxis des Mitnehmens statt des Exzerpierens im Lesesaal seinen Vorboten. Diese Beobachtung erscheint rückblickend als eine der zentralsten Veränderungen dieses Theoriesommers. Dabei rückt der Leser zunehmend in den Mittelpunkt, sein Umgang mit den Texten trägt ebenso zur Theoriebildung bei. Und aus ihr heraus ließen sich Lesegewohnheiten in den 70er Jahren anscheinend optimistischer betrachten als heute:

„Der kleine Band zur Lage – das lag in der Konsequenz von Suhrkamps Theorie-Taschenbüchern, die seit Mitte der sechziger Jahre dazu einluden, überboten zu werden. […] die Verschiebung der Lesegewohnheiten, den Relevanzverlust der schönen und den Siegeszug der theoretischen Literatur. Theorie, wie Romane verschlungen und derartig taschenbuchfähig gemacht: Aus dieser Formel erwuchs um 1970 ein neues Marktsegment mit wachsenden Umsätzen.“ (P. Felsch: Der lange Sommer der Theorie, C.H. Beck, München: 2015, S. 64.)

Die Akten aus dem Archiv des Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, an das Gente seine Papiere des Merve Verlags zu Lebzeiten für seine Pension verkauft hat, erzählen die Geschichte laut Felsch aus der Perspektive der „User“. Endlose Diskussionen über Texte, insbesondere die zu veröffentlichenden, gehören in das Bild der 1970er Jahre. Wie sich das Diskutieren der Texte verändert, lässt sich an der wandelnden Bezeichnung der Merve-Reihe ablesen. Sie wechselt innerhalb der 70er Jahre von der internationalen marxistischen diskussion zu Internationaler Merve Diskurs. Besonders dieser Übergang lässt sich im Buch von Felsch unter den Überschriften „1970 – Ewige Gespräche“ und „1977 – Französisch im Deutschen Herbst“ detailliert nachvollziehen. Bezüglich des Merve Verlags bringt Gente das Credo dieser jahrelangen Selbstfindung später folgendermaßen auf den Punkt:

„Althusser und Foucault haben immer für sich in Anspruch genommen, daß ihre Theorie Praxis ist. Wir machen Bücher, das ist unsere Praxis.“ (Gente, 73)

Diese Praxis findet ihren Ausdruck in einer grundsätzlichen Veränderung der Verlagsprogrammatik sowie im fortan kleineren Format. Von DIN B6 wird auf DIN A5 umgestellt, mit Blick auf die Jackentaschen also vom Parka auf North Face Windbreaker. Felsch bemerkt zum Hinter-sich-Lassen des Marxismus, das sich im Programm von Merve mit einem Band Lyotards ankündigt:

„Eine der ersten und auffälligsten Konsequenzen dieses Paradigmenwechsels war die Reskalierung der Maßverhältnisse des Politischen: Das Kleine, aus klassisch linker Sicht notwendig zur Wirkungslosigkeit verurteilt, verwandelte sich in ein Versprechen. Das Wortfeld des Mikroskopischen […] zeigt das Ende des Glaubens an die Macht der Massen an.“ (103)

In dieser bis heute im Verlag wirkenden Mikroskopie kündigt sich ein weiterer Bruch an, der sich am deutlichsten mit dem Ende der großen, von der Masse der Studenten getragenen Ära der Theorie zeigt. Diese endet für Felsch mit der Wende zum grünen Denken: „Mit dem Siegeszug der Ökologie neigte sich die Ära der großen theoretischen Entwürfe ihrem Ende zu, und es begann die Herrschaft der kruden Empirie von Becquerel, Schilddrüsenwerten und Bodenproben.“ (154) Dass innerhalb dieser Parameter nicht einmal mehr das Denken der Revolution möglich ist, konnte damals erahnt werden – heute besteht die Gewissheit.

Linker und linkischer Reflexion ist mit Deleuze, und fortan auch bei Merve, konsequent nur noch mit einem Lachen zu begegnen:

„Als Ausdruck ihrer neuen theoretischen Perspektiven entdeckten die beiden Verleger die nietzscheanische Spaßkultur: ‚Wer Nietzsche liest, ohne zu lachen, ohne viel zu lachen, ohne oft und manchmal wie verrückt zu lachen’ schrieb Deleuze, ‚für den ist es, als ob er Nietzsche nicht läse.’“ Die Verleger Peter Gente und Heidi Paris kultivierten diese gute Laune und stellen fest: „Wir wollen ein kleiner Verlag, unscheinbar und daneben sein, und das macht uns irre Spaß.“ (110)

Zum Ende des Buchs mehren sich die Hinweise auf eine „‚Ästhetisierung der Wahrheit’, die Jacob Taubes als Signatur des Posthistoire diagnostizierte“. Mit ihr einhergehend tritt der „Eingeweihte“ auf den Plan, der als Leser von Merve-Büchern seit Mitte der 80er ein erhebendes Leseerlebnis allein durch den Kauf einer Raute sein Eigen nennen mag. Hier liegt ein Missverständnis vor. „Verrätselung der Sprache“ und individuelle Lektüren vermeintlich kruder oder verschriener Denker taugen nicht zur Elitenbildung. Der Unterschied zwischen Avantgarde und Elite, das zeigt Cord Riechelmann unter anderem mit Michel Serres im eingangs zitierten Essay, liegt in der Intention. „Erst wenn die Wenigen im Auge behalten, daß Wahrheit nur dann Wahrheit ist, wenn sie für alle ist, dann arbeiten sie am Projekt der Wahrheit, die immer ein Projekt des Friedens und der Gleichheit ist. Das ist ein Projekt, das die Wahrheit immer auf der Straße sucht oder auf die Straße trägt.“ Und dieses Projekt lässt sich mit Paperback und Blog-Artikel noch immer leichter realisieren als mit Texten zwischen dicken Deckelbrettern.

 

Björn Hartwig

 

Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960 – 1990. C H Beck 2015

 

 

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