Stolpersteine (a fine selection)
Natürlich sind sie alle eitel. Aber warum davon sprechen, wenn mal ein Text zurückgewiesen wird? Der Kunstwissenschaftler und Medientheoretiker Beat Wyss konnte es offensichtlich nicht verwinden, dass seinerzeit – es war im Jahre 2002 – ein Aufsatz mit dem vermeintlich provozierenden Titel Bin ich Antisemit? von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nicht akzeptiert worden war, obwohl doch "die nachfolgenden Zeilen [Wyssens Text] auf Bestellung" geschrieben waren. (Genauer gesagt waren die "nachfolgenden Zeilen" ja gar nicht bestellt, denn dann wären sie nicht zurückgewiesen worden.) Die angefragten Autoren sollten über "den Einfluss jüdischer Intellektueller auf das Denken der Nachkriegsgeneration" schreiben. Der beleidigte Autor klagt an: "Die Redaktion der Zeitung wies meinen Text zurück und unterstrich den verhängten Maulkorb geradezu mit der Tatsache, dass mir das vorab vereinbarte Honorar ausbezahlt wurde – gleichsam als Schweigegeld."
Über zehn Jahre lang hat Beat Wyss geduldig den grausamen Maulkorb getragen, aber mit dem vorliegenden Buch wird das Schweigen gebrochen. Um es vorwegzunehmen: Beat Wyss ist kein Antisemit. Das zeigt der Artikel, der am Anfang des Buches abgedruckt wird, eindeutig. Dafür zeigt er etwas anderes, das sich leider durch das gesamte Buch zieht: Der Autor ist ungenau. So führt er in dem besagten Artikel eine Reihe von Autoren an, die für ihn und seine Generation intellektuelle Vorbilder waren: "fast durchwegs Juden": Kafka, Bloch, Adorno, Benjamin, Freud, Autoren, die nach dem Krieg "in den Kanon linksliberalen Gedankenguts eingebürgert wurden." Kafka und Freud "linksliberal"? Aber auch Adorno? Das sind doch rabenschwarze Schriftsteller, die mit "sozialem Fortschritt" nichts am Hut haben.
Solche Absurditäten, aber auch Ungenauigkeiten und Fehler im Kleinen lassen im Leser dieses Buches eine selbst schon wieder absurde Abklopflektüre entwickeln. Man schafft es nicht mehr, diese Dinge einfach zu ignorieren. So heißt es zum Beispiel in dem Artikel Verdammende Schrift: "Was ist Gnosis? Die reine Lehre im Kampf gegen den Abfall. Wer sie befolgt, widerfährt die Erlösung in Form einer Wiederkehr..." Korrekt muss es heißen: "befolgt, dem widerfährt..." (ohne stilistische Elevation).
In dem Kapitel Säkulare Gnosis bekommt der uneingeweihte Leser den Eindruck, dass Baudelaires Einleitungsgedicht zu den Blumen des Bösen nur aus drei Strophen besteht. Etwas später zitiert Wyss ein paar Zeilen aus dem "heiteren Finale" von Flauberts Versuchung des Heiligen Antonius, nur um einen Augenblick später mit Sartre die Technik Flauberts "als eine Freilegung der Sprache in ihrer dunklen Materialität" zu charakterisieren. Ist das Ende nun heiter und "versöhnlich", oder verliert "das Wort seine Bedeutung als Zeichen"?
"Carl Friedrich Schinkel" heißt eigentlich immer schon Karl Friedrich Schinkel, und der Vorname von Frau Royale ist Ségolène und nicht Ségolème (bei beiden Namen falsch auch im Namensregister).
Es würde sich lohnen, für dieses Buch einen Banalitätsdetektor zu entwickeln. Ein Beispiel für Aufgeblasenes: Im Kapitel Ruinenrevolution liest man: "Eine Reise fiele wie ein nicht erinnerter Traum in die Nacht des Vergessens zurück, würde sie nicht durch Aufschreiben dokumentiert." Jedem Einkauf droht das gleiche Schicksal. Wyss schreibt weiter: "Die Schriftkonserve wiederum gilt es periodisch zu öffnen, um zu prüfen, ob und wie weit der Inhalt einer nachträglichen Beobachtung noch standhalte." Das ist ein bizarres Bild, die Schriftkonserve, denn Konserven sind ja eigentlich nicht dafür gemacht, "periodisch" geöffnet zu werden, man stelle sich einen der potenziell 90 Käufer von Manzonis merda d'artista vor... Das Ding muss unbedingt geschlossen bleiben. (Wahrscheinlich hat sich Wyss hier von Lacans "Sardinenbüchse" aufs Glatteis führen lassen.) Etwas später heißt es: "Das moderne Denken fordert den positiven Nachweis empirischer Dringlichkeit, um am sperrigen, widerständigen, am buchstäblich nichtssagenden Gegenstand die Reflexion zu entfalten." Dringlich wäre hier vor allem, über vermeintliche Äquivalenzen nachzudenken (das geht auch ohne Moderne).
Auch im folgenden Beispiel ist der Wyss'sche Satz ein Grab des Denkens, genauer gesagt, ein Massengrab: "Das fotografische Medium lieferte das versöhnende Ikon zur symbolischen Konvention der Quellenliteratur und dem indexikalischen Befund der Ruinen ausgrabende [sic] Archäologie." Von Letzterer vermag der Autor interessante Neuigkeiten zu vermelden: "Archäologie zeichnet ein abjektes Objekt nach und vergewissert sich der Gegenwart von Vergangenheit in Trümmerform." Es ehrt den Versuch des Autors, der Poetizität der Dichter nachzueifern, aber was haben die Kristeva'schen Schleimbeutel mit dem sehnsuchtsvoll Ertapp- und Ertastbaren dieser unterirdischen Froscher zu tun? Aber auf der Erde geht es nicht anders zu: "Zur gleichen Zeit [Schliemann] übernahm die Fotografie die historisierende Funktion der Ruine. So wie diese ist Fotografie die Spur einer abjekten Wirklichkeit." Soll das ein Witz sein?
Zur Seltsamkeit gesellt sich die Arroganz: im Kapitel Die entheiligte Wölfin heißt es: "Die Repubblica vom 17. November 2006 wäre belanglos, wenn es unter den Meldungen nicht eine gegeben hätte, die mich als Kunsthistoriker elektrisierte". Hoffentlich hält dieses Blatt in Zukunft Rücksprache mit Herrn Wyss, damit es genau weiß, was wichtig ist und was nicht. Denn sonst würde sich das Blatt selbst kannibalisieren. Doch ich greife vor. Dass die modernen Künstler im Grunde Verbrecher sind, das ahnte man ja immer schon, aber noch nie wurde das so ehrlich, aber zugleich auch so diskret ausgesprochen wie von Beat Wyss: "Der westliche Modernismus kannibalisierte das, was ich die ästhetische Differenz nenne, und formte daraus die Sprache der Avantgarde." Wir können nur hoffen, dass sich die Übergriffigen nicht an dem neuen Rezept verschluckt haben.
Aber auch der heutige Leser hat es nicht einfach. Wie gerne würde er manches textuelle Gericht ohne die poststrukturalistische Sauce goutieren, aber das wird wohl noch ein bisschen dauern, bis die Sauce als Schlacke abfällt. Der Leser liest: "Ethnografie identifiziert den Andern als ein nicht-identisches Subjekt, das sich unterscheidet von dem, der die Macht hat, Andersheit zu definieren." Von diesen logischen Finessen ahnt noch nicht einmal die Philosophie etwas. Auch Beat Wyss distanziert sich von solchen "hegemonialen Diskusrsen" und weiß von seltsamen Direktheiten zu berichten: "1898 besuchte der Ethnologe und Arzt Paul Ehrenreich das Schlangenritual im Auftrag des Berliner Museums für Völkerkunde." Aus gegebenem Anlass hat sich selbiges (das Schlangenritual) einige Zeit später solche Besuche verbeten.
Aber wir brechen hier ab, wir wollen nicht alle Späße preisgeben. Ach ja – und die Renaissance? Kommt eh wieder.
Dieter Wenk (1-14)
Beat Wyss: Renaissance als Kulturtechnik, Hamburg 2013 (Philo & Philo Fine Arts) Fundus 204