12. Januar 2013

Flug in den Äther

 

Jedes Museum hat seine verborgenen Seiten und ist insofern auch ein Verborgenes Museum. Reisen ins Depot sollten öfters angeboten werden. Es ist aber normalerweise wie bei Hemingway: Nur die Spitze des Eisbergs ist sichtbar. Aber es gibt auch Zwischenbereiche, die nicht direkt einzusehen sind, prinzipiell aber zugänglich sind wie etwa Künstlernachlässe. Die Berlinische Galerie, Herausgeberin dieses Raoul-Hausmann-Bandes, besitzt zahlreiche solcher Nachlässe, unter anderem von Heinrich Zille und Hannah Höch. Und eben den von Raoul Hausmann. Von den drei Hauptveranstaltern der legendären „Ersten Internationalen Dada-Messe“ in Berlin 1920 ist Hausmann vermutlich heute der am wenigsten bekannte, George Grosz und John Heartfield haben sich stärker ins Gedächtnis eingegraben.

 

Hausmann war aber nicht nur – und das zeigt dieser Band ausgiebig – Künstler (oder Anti-Künstler, man war ja schließlich Dadaist), sondern auch ein an technischen Entwicklungen äußerst interessierter Zeitgenosse, der sich zudem mit dem beschäftigte, was man heute vermutlich als Para-Wissenschaft bezeichnen würde. Aber noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bis hin zu Albert Einstein, der das Theorem des Äthers mit der Einführung der speziellen Relativitätstheorie widerlegte, waren Spekulationen en vogue, wie man sich zum Beispiel die Ausbreitung von Licht im Vakuum vorstellen sollte. Hausmann war ein begeisterter Anhänger von Ernst Marcus‘ (vergeblichen) Anstrengungen, wie das Rätsel der „exzentrischen Empfindung“ zu lösen sei, das, wenn es gelöst werden könnte, die ganze Systemtheorie zum Kollabieren bringen würde. Begeistern ließ sich Raoul Hausmann desgleichen von Karl Koelschs Theorem des „Schnürzerrels“, wonach sowohl im mikro- als auch im makrokosmischen Bereich Prozesse des Zusammenziehens und Sicherweiterns zu unterstellen seien, ein Versuch einer ganzheitlichen Betrachtung des Universums, der Raoul Hausmann deshalb interessieren musste, weil er mit seiner eigenen Theorie der „Optophonetik“ Überlegungen anstellte, inwiefern unterschiedliche Sinne wie Hören und Sehen ineinander übersetzbar seien.

 

Dass die Hypothese einer möglichen Überführung eines Sinnes in einen anderen alles andere als abwegig ist, beweisen heutige medizinische Verfahren mit Ultraschall; letztlich ist die digitale Welt nichts anderes als ein gigantisches Rechenumsetzungsprogramm. Der Leser dieses Bandes muss sich nicht sofort mit Hausmanns wissenschaftlichem Fantasieren abgeben. Eine zweistufige Einführung ist den Originalschriften oder Teilen daraus, aber auch Briefen, vorgeschaltet. Zunächst informiert Ralf Burmeister von den Künstler-Archiven der Berlinischen Galerie über den Status dieses Bandes im Verhältnis zu den schon publizierten oder noch zu erwartenden Bänden des Dadaisten und Erfinders Hausmann. Anschließend stellt Arndt Niebisch das nötige Rüstzeug bereit, um die Hausmann’schen Selbstverständlichkeiten mit den für den heutigen Leser nötigen Rückbezüglichkeiten auszustatten. Diese 50 Seiten sind faszinierend zu lesen, sie legen einen Horizont erneut frei, über den wir Nachgeborene wie selbstverständlich hinausgegangen zu sein scheinen. Hier erfährt man unter anderem, warum sich Hausmann einmal sogar mit Albert Einstein anlegen musste. Und es wird klar, dass Hausmanns Beschäftigung mit Technik kein bloßer Zeitvertreib war, sondern dass er mit seinen (in der Tat wohl nicht allzu innovativen) Erfindungen auch richtig Geld verdienen wollte, etwa über Patente (unter der Nummer DE 473 166 ist ein Patent Hausmanns zur „Vorrichtung zum Beobachten von Körperhöhlen und –röhren“ registriert, 12. August 1927).

 

Jede Zeit, so scheint es nach Lektüre dieses Bandes, ist mit einer Art dadaistischem Wattebausch ausgestattet, den abzunehmen und gegen einen anderen auszutauschen einer anderen Zeit vorbehalten bleibt. Spätere Zeiten sind nur anders abgefedert. Den Durchblick durch die Watte hat keiner.

 

Dieter Wenk (1-13)

 

Raoul Hausmann: Dada-Wissenschaft. Wissenschaftliche und technische Schriften, hrsg. von der Berlinischen Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur. Bearbeitet von Arndt Niebisch, Philo Fine Arts 2013, Fundus 193

 

 

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