4. Dezember 2012

Vom Necessaire zum Kulturbeutel

 

Am Ende seiner Würdigung Michel Foucaults als eines politischen Denkers kommt Henning Ottmann auch auf eine junge Disziplin zu sprechen, die sich stark auf den Franzosen bezieht. Es heißt hier: „Die vor allem im englischsprachigen Raum betriebenen cultural studies weiten den Kulturbegriff. Sie nehmen Alltagsphänomene in den Kulturbegriff hinein, was in normativer Hinsicht nicht unbedenklich ist und die Assoziation des ,Kulturbeutels‘ hervorruft.“ Das ist eine ganz wunderbare, vielleicht auch ganz unbeabsichtigt komische Stelle einer insgesamt sehr nüchternen Darstellung des Autors. Der obige Kulturbeutel: Da passt alles rein, unterschiedslos, alles ist Kultur. Aber eigentlich ist der Kulturbeutel ja nichts anderes als das viel feiner daherkommende Necessaire, das notwendige Gebrauchsgüter in sich versammelt.

 

Wenn es nicht so dämlich klingen würde, ließe sich die These aufstellen, dass das politische Denken zumal des 20. Jahrhunderts mit der Frage anhebt, was in den Kulturbeutel hineingehört und was nicht. Der Beutel ist immer schon da, aber wo fängt die Notwendigkeit an? Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis dieses letzten von neun Teilbänden zur Geschichte des politischen Denkens lässt an ein Potpourri denken. Ottmann bringt zusammen Denker wie Martin Heidegger und Michel Foucault, Schriftsteller wie Albert Camus und Doris Lessing, kritische Theoretiker und kritische Rationalisten, Feministinnen und Utopisten, Postmoderne und Kommunitaristen. Aber warum ist zum Beispiel Joseph Beuys nicht dabei?

 

Wie auch immer, die Frage nach dem Notwendigen scheint den Beutel zu sprengen. Die Frage nach einem sinnvollen gemeinsamen Leben wird nicht gemeinsam beantwortet. Wie sollte es auch. Das ist die Dialektik des je eigens gepackten Kulturbeutels. Es ist dann aber immer etwas wohlfeil, den vorgestellten Autoren als politischen Autoren Dinge vorzuwerfen, die sie gar nicht treffen, etwa Martin Heidegger, keine Theorie der Intersubjektivität vorgestellt zu haben. Dann wird Heidegger wieder in Schutz genommen (vor Emmanuel Faye), indem einfach nur eine rhetorische Frage gestellt wird: „Hat man solche Abstrusitäten nötig, wenn man Heidegger kritisieren will?“ Knapp zwei Seiten wird dann Heidegger selbst ein „absurder Versuch“ unterstellt.

 

Auf welchem Terrain bewegen wir uns? Es sieht dann doch eher nach „tausend Plateaus“ aus. Denn was hat uns Valerie Solanas (politisch) zu sagen, außer dass sie als Anekdotenspenderin herhalten darf für den king of pop Andy Warhol? Ist Sartre als politischer Denker interessant? Adorno mag als Theoretiker und als Stilist interessant sein. Aber als Politiker? Der Titel gerade dieses Teilbandes müsste eigentlich sein: Geschichten des politischen Denkens, denn man hat es hier ja doch immer mit Einzelnarrationen zu tun, die kaum mit (den) anderen kompatibel sind. Manche der Geschichten sind idiotisch (auch im alten griechischen Sinn), manche verstehen sich als Totalangebot, ohne deshalb totalitaristisch sein zu wollen (Rawls etwa).

 

Das Gute an Ottmanns Buch: Unausgesprochen wird in jedem Kapitel die entscheidende Frage zwischen Denken und Handeln neu gestellt und implizit verhandelt. Am Ende steht eine große Verwirrung. Oder auch eine Einsicht: Denken ist eine Sache. Aber was ist die andere?

 

Dieter Wenk (11-12)

 

Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Band 4: Das 20. Jahrhundert. Teilband 2: Von der Kritischen Theorie bis zur Globalisierung, J. B. Metzler 2012

 

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