5. Juli 2012

Über die Flügel

 

In welche klassifizierende Form lassen sich Werke von Schriftstellern bringen? Mal spricht man von Haupt- und Nebenwerk, mal sichtet man Zyklen (von Romanen, Gedichten), Novellen werden zu Kränzen geflochten, manches wird zum Jahrhundertwerk monumentalisiert, manchmal sprengen Texte ein scheinbar homogenes Autorenbild. Im Falle des französischen Schriftstellers Philippe Sollers (geb. 1936), dessen Werk noch nicht abgeschlossen ist, aber bislang schon über 60 Publikationen aufweist, bietet sich ein Bild an, das sich bequemerweise materialisieren lässt und wie ein konkretes und symbolisches Regalsystem funktioniert: das Altarbild: Im Zentrum locken die „Frauen“; 1983 veröffentlicht Sollers seinen ersten (und einzigen) Bestseller: Femmes, eine Art Schlüsselroman, der die Sittengeschichte der 1960er und 1970er Jahre vor allem Frankreichs in einer sehr speziellen Optik liefert. Die Predella hütet das Reliquienkabinett des Autors, die esoterischen Schriften, die sich wie ein einziger Bach ergießen, man aber nicht genau weiß, wohin; zu diesen Texten zählen u.a. Paradis, H und Nombres. Der eine der beiden Flügel versammelt kürzere und längere Texte zu Literatur, Kunst und Musik des Abendlandes, u.a. La guerre du goût oder Théorie des exceptions. Der andere Flügel präsentiert das Romanwerk des Autors, von Portrait du joueur über Le secret und Passion fixe bis hin zu dem 2012 veröffentlichten L’Éclaircie.

 

Dieser Flügel erscheint wie ein großformatiges work on progress. Die einzelnen Romane wirken wie Kapitel eines unabgeschlossenen und unabschließbaren Großromans. Eine Comédie humaine der zweiten Hälfte des 20. und des Beginns des 21. Jahrhunderts. Im Zentrum des „Geschehens“ steht immer ein und dieselbe Figur, mehr Reflektor als Handelnder, jemand, der im traditionellen Sinn „nicht arbeitet“ (die Devise Guy Debords: ne travaillez jamais!), der meist mehrere Beziehungen zu Frauen unterhält, das Programm des freien Lebens eines Aristokraten des 18. Jahrhunderts wortreich verkündet und für die Zeitgenossenschaft (einschließlich der zeitgenössischen Kunst) nur Verachtung und Spott übrig hat. Die Flügel der Konstruktion des vorgestellten Bildes wachsen kontinuierlich, die Exoterik wechselt bloß gewisse Leitfiguren aus, die sich mit dem Gesamtprogramm gut verbinden lassen (mal ranken die Romane um Nietzsche, immer wieder um Picasso, ebenso um Rimbaud, jetzt, in L’Éclaircie, um die Maler Manet und Picasso), die Textur der Romane bleibt aber ansonsten gleich.

 

Das in Deutschland wenig gebräuchliche Etikett der Autofiktion böte sich für das Schreiben von Philippe Sollers geradezu an, wenn es nicht zuletzt so wenig ergiebig wäre. Die Autobiografie des Philippe Sollers ist eigentlich eine Genobiografie: Ein freischwebendes Musterexemplar (ein gelebtes Meisterwerk) findet hier und da (aber nicht willkürlich) eine Erfüllung. Insofern ist die Romanproduktion eine regelrechte Parade. Künstlerische Tambourmajors. Raffinierte Selektionen der Extraklasse. Hier, in diesen Romanen, wird Ernst gemacht mit dem avantgardistischen Programm, Kunst zu leben. Das Altarbild ist also eine Herausforderung, es will mehr sein als eine von vielen Privatmythologien. „Diktatur der Kunst“ hat man das andernorts genannt. Die offensichtliche Schwäche dieses Konzepts: Nur mit den Mitteln der Kunst kann sich die Kunst nicht als Kirche etablieren. Aber soll sie das überhaupt? Wir lassen Philippe Sollers weiter an seiner Figur bauen. Nicht alle haben in dieser „Lichtung“ Platz.

 

Die Leitfiguren der Romane sind immer Spiel- und Spiegelfiguren des Autors oder der Autorfiktion. Dazu gehören auch familiäre Konstellationen, die passen oder passend gemacht werden. Im Falle dieses jüngsten Romans (zu deutsch etwa: Die Lichtung) experimentiert der Autor mit dem familiären Verbot des Inzests. Gerade hier gibt es Grenzen, aber vielleicht nicht da, wo man sie zunächst vermuten würde. Sich vorzustellen oder davon zu träumen, mit der eigenen Schwester zu schlafen, mag für den Betreffenden ganz spannend sein, etwas sehr Besonderes, aber als bloße Vorstellung ist es für Dritte nicht ganz so aufregend. Der eigentliche Skandal wäre gewesen, die eigene Schwester unter dem revolutionären Titel „Olympia“ (à la Manet in Sollers’ Verständnis) zu präsentieren. Gerade an solchen Stellen spürt der Leser die Begrenztheit des Sollers’schen Kosmos. Die Schwester spielt in dem Roman auch kaum eine Rolle für sich selbst. Sie wird fallen gelassen und gedoppelt von einer Frau, die genau diese Freizügigkeit dann leben kann, und zwar diskret. Apropos Inzest: Wagner interessiert Sollers überhaupt nicht, weil er ihn musikalisch ablehnt (Haydn gegen Wagner). Dabei hätte er im „Ring“ durchaus „Material“ finden können. Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften wird immerhin erwähnt als Prototyp in Sachen Geschwisterliebe, aber „Habsburg“ wird generell zurückgewiesen als für Sollers uninteressante Brutstätte der Literatur (bis auf Kafka). Der literarische Chauvinismus macht sich in diesem Buch nicht ganz so breit wie in anderen Publikationen, aber er ist auch hier unangenehm, manchmal auch nur lächerlich. Das Altarbild ist schon lange fertig, es ist extrem grell beleuchtet.

 

Und manchmal sagt Sollers auch, warum das so sein muss, denn dann sieht man ihn, wie er (auch als Repräsentant eines gloriosen, aber heute fast ganz vergessenen Frankreich) vor der Wand steht und fassungslos dem imperialistischen Kolonialismus der Vereinigten Staaten von Amerika zusehen muss. Aber im Kosmos von Philippe Sollers existiert Verzweiflung nicht. Das ist gegen die Regel der happy few, und es ist nur logisch, dass ein „Roman“ Sollers’, der vorletzte, Trésor d’Amour, 2011 publiziert, einem weiteren Helden, Stendhal, gewidmet ist, dem literarischen Theoretiker der Insider-Kultur. Ein Baustein im Kosmos des hedonistischen Aktionismus steht natürlich noch aus. Wir warten, weniger aus Spannung als der Vollständigkeit halber, auf einen Roman mit Spinoza im Zentrum.

 

Dieter Wenk (6-12)

 

Philippe Sollers: L’Éclaircie. Roman, Paris 2012 (Gallimard)