7. Dezember 2003

Sechzehnjährige kappt Juden

 

Der Band versammelt zehn Erzählungen, von denen neun in verschiedenen Zeitschriften wie „Paris-Toujours“, „Candide“ oder „Je suis partout“ zwischen 1938 und 1943 veröffentlicht wurden. Erstaunlich, dass Aymé sich von Robert Brasillach hat anregen lassen, in „Je suis partout“ zu publizieren, denn Brasillach wurde nach 1945 als Kollaborateur hingerichtet, der Antisemitismus der Zeitschrift war bekannt. Insgesamt fünfmal erschienen Erzählungen Aymés in diesem Blatt, zwei davon finden sich in „Le passe-muraille“.

Man kann sich fragen, ob Aymé sich in der im Januar 1943 in verschiedenen Ausgaben von „Je suis partout“ veröffentlichten Geschichte „Les Sabines“ indirekt über die antisemitische Zeitung lustig machen wollte, denn um nichts anderes als um „Ich bin überall“ geht es bei den vervielfältigten Sabinen. Eine Frau, Sabine, entdeckt die Fähigkeit, mehr als eine zu sein, und macht erst bescheiden, dann bereits als Kopie katastrophalen Gebrauch von der Serie. Sabine ist überall, auf der ganzen Welt, Gattin der reichsten Männer. Am Ende stirbt eine Kopie, indem sie erdrosselt wird, und in dem Moment ist auch der Spuk vorbei für die Zehntausenden ihresgleichen. Könnte ein Hinweis sein.

In der drei Monate davor in „Je suis partout“ publizierten Erzählung, „Poldewische Legende“, werden die einfachsten Dinge auf den Kopf gestellt, denn es ist Krieg, und auch im Himmel wird nicht danach gefragt, ob jemand als Christ gelebt hat, sondern ob er ein tapferer Krieger gewesen ist. Die Geschichte endet beinah als Witz, denn die eigentlich den Himmel verdient Habende, die Ziehmutter eines garstigen Jungen, der sich aber als Krieger problemlos den Himmel verdient, kommt nur dadurch in den Himmel, dass der Ziehsohn sie als Hure des Regiments dem blöden Petrus vorstellt.

Auch in der Titelgeschichte geht es nicht mit rechten Dingen zu. Ein Büroangestellter findet heraus, dass er die Gabe hat, durch Wände zu gehen. Das nutzt er aus, um seinem rücksichtslosen Chef mächtig Angst zu machen, indem er von Zeit zu Zeit seinen Kopf durch die Wand steckt und den Chef beleidigt. Dieser muss bald als Fall fürs Mobbing das Feld räumen, und der andere kann sich ruhig anderen Dingen zuwenden, zum Beispiel von ihren Männern eingepferchten Frauen einen netten Besuch abzustatten. Irgendwann bleibt er aber zwischen den Wänden stecken, er hatte da verschiedene Medizinen durcheinandergebracht, von denen eine ihn von der wundersamen Fähigkeit heilen sollte.

Die letzte Geschichte, „Inzwischen“, ist wie ein Kassiber, unveröffentlicht ans Ende des Bandes platziert und von den alltäglichen Miseren des Krieges berichtend. Vierzehn Bewohner des Montmartre entschließen sich während des Krieges von 1939-1972, nicht mehr voneinander zu weichen und freundschaftliche Bande zu knüpfen. In unterschiedlicher Länge und Ausführlichkeit berichten sie von den Tragiken der Krieges, die nicht ohne Witz sind, zumindest für den heutigen Leser. Zum Beispiel erzählt ein zwölf-jähriges Mädchen, das von seiner Mutter vor den Männern als bloßen Schweinen gewarnt wurde, eine Begegnung mit einem Mann, vor dem es sich ängstigte und der sie tatsächlich flach auf den Boden legte, um – ihr die Schnürsenkel zu klauen, von dem Mädchen erzählt völlig ohne Ironie. Aber der vielleicht entscheidende Satz dieser eingeschmuggelten Geschichte, die gegenüber dem deutschen Besatzer kein Blatt vor den Mund nimmt, und der vielleicht unerhörte Protest des Autors gegenüber der Judenfeindlichkeit nicht nur der Deutschen, ist ein Satz mit sieben Wörtern, der in dieser Geschichte liegt wie ein Sarg, den die verbleibenden dreizehn Personen nach dem Ableben der vierzehnten zuerst nicht finden. Es ist ein Satz völlig ohne Anschluss, es gibt keine Überleitung nach vorne oder zurück, und er lautet: „Moi, dit un Juif, je suis juif [Ich, sagte ein Jude, bin Jude].“ Der Jude bleibt ohne Geschichte, sofort übernimmt ein sechzehn-jähriges Mädchen, und berichtet davon, dass es in Paris keine Jungen und Männer mehr gibt. Am Ende findet man einen Sarg für die Verblichene, aber jetzt sitzt man zu Dreizehnt am Café-Haus-Tisch, und das kann ja nur Unglück geben.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Marcel Aymé, Le passe-muraille, Paris 1943</typohead>