12. Mai 2011

Diderots Erben

 

„Mit Band IV der zweiten Auflage“, so schreibt der Herausgeber Jürgen Mittelstraß in seinem Vorwort, „liegt nunmehr auch die Artikelgruppe Ins – Loc in gründlicher Neuberabeitung vor.“ Diese Artikelgruppe – wie auch schon die ihr vorhergehenden – erfuhr eine Umwandlung von eher lexikalischem Aufbau (relativ kurze Artikel, knappe Bibliografie) hin zu enzyklopädischem Format, das sich „an den Idealen der Vollständigkeit und des systematischen Zusammenhanges“ orientiert. Gerade bei Einträgen zu Personen sind Werks- und Literaturangaben meist umfangreicher als der Artikel selbst. Und gerade hier merkt man, dass auch etwas längere Artikel, im Unterschied zur ersten Auflage, ein Vorwissen auf Seiten des Lesers erzwingen.

Wie gut verdichtet etwa der Artikel zum Psychoanalytiker Jacques Lacan auch sein mag, die extreme Abstraktion ist für den Neueinsteiger wenig hilfreich, für den Eingeweihten allerdings eine angenehme mnemotechnische Unterstützung. Auch die Artikel etwa zur indischen Philosophie starten ihre Explikation in medias res; wenn hier etwas festgehalten werden kann, dann immerhin die Einschätzung, dass diese Philosophie, was ihre Komplexität angeht, anscheinend der westlichen Philosophie in nichts nachsteht. Ein wichtiges Moment eines solchen umfassenden Unterfangens ist sicherlich, auch ein wenig die Hintergründe zu beleuchten und Namen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, deren Bedeutung, auch aufgrund veränderter Bedingungen, kaum noch gewürdigt werden.

So kommt dem italienischen Philosophen Jacobus Veneticus Graecus, der in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts wirkte, das Verdienst zu, „eine lateinische Fachsprache für Philosophie und Wissenschaft“ geschaffen zu haben. Der im 19. Jahrhundert lebende englische Logiker William Stanley Jevons wiederum wird als einer gewürdigt, der „den ersten mechanischen ,Computer’“ schuf, ein Gerät, das später wegen seiner Form als ,logical piano’ bezeichnet wurde. Der im 18. Jahrhundert wirkende Philosoph Johann Heinrich Lambert war es, der das Wort Phänomenologie prägte, lange also vor Edmund Husserl, mit dem diese Spielart der Philosophie normalerweise verbunden wird. Sicherlich wichtiger als solche Mikrogenealogien sind die profunden Versuche der Einordnung von Denkern und Logikern und wissenschaftlichen Systemen in ihrer Zeit und ihre Würdigung im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte. Aufgrund der vielfachen Verweise im Artikel selbst (auf weitere Lemmata oder auf das Werks- und Literaturverzeichnis) ist das bequeme Lesen manchmal etwas eingeschränkt, aber gelesen werden solche Artikel ja doch meist entweder diagonal oder unter Höchstanspannung.

Den Artikeln vorangestellt ist ein Abkürzungs- und Symbolverzeichnis, also Infrastrukturelles zu Autoren, Nachschlagwerken, Zeitschriften, Werkausgaben und logischen und mathematischen Symbolen. Weise wird man hier vielleicht nicht, schlau schon.

 

Dieter Wenk

 

 

Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 4: Ins-Loc, 2. neubearbeitete und wesentlich ergänzte Auflage, Stuttgart/Weimar 2010 (Metzler)

 

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