1. Dezember 2010

Gehäuse Moderne

 

Ob die Moderne unsere Antike ist, haben die Macher der documenta gefragt und gleich konsequenterweise mit »welche Moderne?« und »wessen Antike?« nachgehakt. Was immer diese Fragen an Rückblenden auslösen mögen, sie entrücken uns die Moderne wie die Milchstraße in klarer Nacht (was aus der Sicht eines Ausläufers ihres westlichen Spiralarms (Douglas Adams) mithin nicht ganz von außen ist). Unser Bezug darauf, sei er kritisch, affirmativ, nachahmend, didaktisch oder allergisch, kommt selbst in den Blick: Wie stehen wir eigentlich zu »Moderne«? Ihren historischen Rahmenbedingungen, unversöhnlich-symbiotischen Begriffspaaren, ihren Haupt- und Nebenwidersprüchen, ihren vergleichsweise deutlichen Frontverläufen? Wiederfinden können wir sie in Sätzen wie diesem, der die Enttäuschung der Frankfurter-Schule-Exilanten darüber ausspricht, dass die Klasse der Arbeiter den Faschismus nicht aus eigener Kraft hatte verhindern können: »Das befreiende Wissen ist nur durch eine dünne Scheidewand von den Menschen getrennt«.

 

Einige Kritiker attestierten Lorenz Jägers »Politischer Biographie« über Theodor W. Adorno zu große Distanz, sogar Gehässigkeit, als das Buch 2003 erschien. Im Nachwort der Paperbackausgabe versucht der Autor, den Eindruck zu korrigieren, und bekennt sich zur Aktualität Adornos. Er habe das normative Potenzial von dessen Theorie verfrüht für erschöpft gehalten. Tatsächlich sei keine andere in Sicht, die angesichts der verbreiteten kulturindustriellen, trivialisierten »Form des Gebots der Erinnerung an die Untaten« für eine angemessene Verarbeitung des Holocaust »zuständig wäre«. Es bleibe nur eine erneute Lektüre der »Dialektik der Aufklärung«.

Aber weder die Einwände dagegen noch Jägers Einlenken erscheinen wirklich plausibel, wenn man die (von Pantheon schön eingerichtete) aktualisierte Ausgabe liest: Erstens ermöglicht Distanz gerade eine kritische Begutachtung; warum sollte man befürchten, die Kritische Theorie hätte heute keinen Bestand, nur weil jemand ihre historischen Konstellationen hervorhebt? Und zweitens ist die »Dialektik der Aufklärung« vielleicht gar nicht der beste Aufhänger, wenn man Adorno Aktualität zugestehen möchte; andere Kandidaten fänden sich in der »Negativen Dialektik«, der »Ästhetischen Theorie«, den hellsichtigen Beobachtungen der »Minima Moralia« und in Unmengen von Briefen, Essays und Aufsätzen.

Ist Adornos Denken nicht sowieso bis in alle Windungen und Winkel ausgeleuchtet? Es gibt Vereinnahmungen, Radikalisierungen, Verharmlosungen und Interpretationen aller Art. Es wäre schon deshalb wirklich untertrieben zu sagen, das Potenzial sei erschöpft. Trotzdem ist es faszinierend, wenig bekannte oder unbekannte Zitate präsentiert zu bekommen, Briefstellen aus der Korrespondenz mit Max Horkheimer, Alfred Sohn-Rethel, Walter Benjamin, die zum gigantischen Schriftwerk im Umfeld gehören, das erst sukzessive begutachtet werden kann. Bis hin zu der zögerlichen Annäherung zwischen Celan und Adorno und den Missverständnissen der Zeitgenossen untereinander. Es lassen sich durchaus auch bei Adorno noch neue Ansichten zu Leben und Werk gewinnen – und verfestigtes, vermeintliches Gemeingut erschüttern.

 

Eigentlich haben wir uns angewöhnt, einen politischen und einen philosophischen Adorno zu unterscheiden. Man kann den philosophischen dem politischen hinzuaddieren; gerne dort, wo es um Kapitalismus-, Kultur- und Gesellschaftskritik geht. Man kann auch den politischen vom philosophischen abziehen, wo epistemologisch oder in Fragen von Freiheit und Determinismus der Unterbau überflüssig erscheint. Erprobt ist auch das Manöver, den philosophischen mit dem politischen Adorno zu überrumpeln; was 68 zum Konflikt mit Studenten geführt hat. Und es geht auch andersrum: dem philosophischen Adorno den politischen austreiben – zugunsten einer Kunsteschatologie oder negativen Theologie.

Daneben gibt es sozusagen fürsorgliche Ausdehnungen seines Geltungsbereichs, die Adornos Anspruch aber zunichte machen. So habe dieser das subversive Potenzial von Pop, Jazz oder Punk aus traditionalistischen Vorurteilen nicht würdigen können, aber mit seiner Theorie lasse sich auch zum Pop alles Wichtige sagen. Ja, irgendwie, ja und nein: Eine Musik, deren Material nicht schriftlich verfasst ist, hatte für Adorno definitiv keinen Bestand, weil das Material die Spuren historischer Entwicklung trägt.

Dass solche Scheidungen oder Fusionen letztlich nur ohne Adorno funktionieren, ist klar, hält aber im Zweifelsfall niemanden ab. Wie hätte er wohl das Video »Dancing Auschwitz« der australischen Künstlerin Jane Korman beurteilt, das die Familie des Auschwitz-Überlebenden Adam Kohn vor den Toren des Vernichtungslagers aufgenommen hat, tanzend zu »I will survive«? Hätte er sich der spontanen Empathie im Netz anschließen können? Auch dafür gibt es in seinem Werk schließlich Anhaltspunkte: dass Humanität jenseits aller Entfremdung, Verblendung und inmitten der verwalteten Welt, jenseits von Administration und Entertainment, durchzuscheinen vermag. Ja, aber.

 

Jäger macht die Schulen kenntlich, die Adornos Denken geprägt haben, die theoretischen Autoritäten, aus denen sich seine Überzeugung und Unbedingtheit speisen. Die Leitmotive: das wichtigste vielleicht »Natur«. Gefolgt von einem Raum philosophischer und anderer Schulen, an denen er sein Denken ausrichtet und darin schließlich immer ein wenig zum Dogmatismus und zur Deduktion neigt. Denn die Schulen verschleiern und verklären zuweilen die Sicht auf eine sich rasant verändernde Wirklichkeit. Marx, Freud, Kierkegaards Existenzialismus, Schönbergs Zwölftonlehre, Hegels Dialektik. Man möchte Schopenhauer hinzufügen, der bei Jäger keine größere Rolle spielt, der aber sowohl für Adornos Einspruch gegen die Unzulänglichkeit des Bestehenden als auch für seinen Naturbegriff und mitleidsethische Motive Pate stehen kann. Die Sprach- und Gesellschaftskritik Karl Kraus’; Nietzsches besondere »Vertikalspannung« – man darf hier vielleicht nicht zu viele Namen hinzufügen, ohne die Idee der Orientierung an Schulen auch wieder durch schiere Vielfalt aufzuweichen. Es ist deshalb auch so substanziell wie bloß selbstverständlich, wenn Jäger festhält: »Fast könnte man sagen, dass die Moderne zum Gehäuse seines [Adornos] Denkens wurde. Und dieses Gehäuse wurde im Laufe der Zeit transparenter, leichter, wohnlicher, besser verfugt – aber verlassen wurde es nicht mehr.«

Jäger zeigt, wie Adornos Bestimmungen eine Welt erschließen und manchmal grell ausleuchten, und wie sie dann auch eventuellen konstruktiven Umdeutungen im Weg sind. Dass diese Denkergeneration auch unter Schock stand und traumatisiert war, kann man bei ihm sehr gut nachlesen. Dass sich ihr Denken, vielleicht besonders im Fall Adornos, nicht in einer Schockreaktion erschöpft, sollte man aber hinzufügen. Viele Elemente bewegen die nachfolgenden Generationen kritischer Theoretiker. Wo Adorno das »Auftrumpfen« der verwalteten Welt und eines irrational gewordenen Zweckrationalismus kritisiert, hat sich etwa bei Habermas eine Skepsis gegen den Überheblichkeitsgestus im technisch-wissenschaftlichen Weltbild erhalten, dem er »Enthaltsamkeit« empfiehlt.

 

Zwar verblassen Adornos philosophische Gründe manchmal hinter dem historisierenden Ansatz, aber schließlich lassen sich gerade bei Horkheimer und Adorno Tendenzen zeigen, aus der Geschichte zu abstrahieren und auf Typen des menschlichen Verhaltens zu projizieren, deren Triftigkeit mit der konkreten Wirklichkeit sagen wir: konkurriert. Lorenz Jäger zeigt eine besondere Aufmerksamkeit für unscheinbare Motive wie Adornos Verhältnis zu Konflikten: »Wo Adorno Konflikte sah, dort konnte er Würde und Menschlichkeit nicht mehr erkennen, und es war nur konsequent, dass er in der empirischen Untersuchung über den ›Autoritären Charakter‹ die Meinung, Konflikte werde es immer geben, als zynischen Ausdruck ›generalisierter Feindseligkeit‹ gedeutet hatte.« Auch das prägt den Dialog mit den Studenten 1968: »Die Studenten, die im Sommersemester 1968 Adornos Soziologie-Vorlesung hörten, mussten gegenüber den Konflikten, auf die sie zusteuerten, so ratlos bleiben wie ihr Lehrer. Vehement wurde von Adorno noch einmal der Gedanke abgewehrt, bei sozialen Konflikten könne es sich um eine ›Eigenschaft der Gesellschaft‹ an sich handeln – aber damit war zugleich der Weg zu einer wirklichen Analyse verbaut.« 

 

Habermas hat es Adornos Kommunikationsskepsis genannt. Vielleicht wirken darin Erfahrungen der polemischen Kulturkämpfe der 1920er Jahre nach. Was sich später in der Ästhetischen Theorie als Bonus der Kunst herauskristallisiert: Erkenntnis haben, ohne sie diskursiv zu haben. Es sagen, ohne es bestimmt sagen zu können. In diesem Charakteristikum der Kunstwahrheit liegt auch eine pazifistische Strategie. Wo es allzu deutlich wird, sind Konflikte unumgänglich. Adorno rüstet die performative Seite der Kommunikation ein bisschen ab. Anklang und Hellhörigkeit schaffen und verkörpern soziale Sensibilität. Musik, könnte man sagen, übt dieses Verhalten ein. Neben allem Möglichen »making it explicit« verweist Adorno auch auf die Notwendigkeit eines »keeping it implicit«.

 

Die beständige Unzufriedenheit mit der eigenen Erkenntnis; dass nichts je restlos richtig gedacht ist, ist der theoretische Kern und der formale Rahmen des an sich ja ganz praktischen Gedankens, es gebe kein richtiges Leben im falschen. Adorno ist eben auch ein Denker des »Ja, aber« – Dadaismus, Zwölftontechnik, Naturzustand: Ja, aber. Soziale Praxis, Modernität, Vernunft ...

Die Denk-Erfahrung der Unzulänglichkeit jeder Begriffsbildung vor der konkreten Wirklichkeit und der Vielfalt der Sprache veranlasst ihn zum Terminus Nichtidentität, dem qualitativen Sprung von der »Dialektik der Aufklärung« zur »Negativen Dialektik«. Als Teil dieses Spätwerks war ursprünglich auch der »Jargon der Eigentlichkeit« gedacht, Adornos Abrechnung mit Heidegger. (Ist es übrigens wirklich ihm zuzuschreiben, dass Heidegger in Deutschland über Jahrzehnte abgemeldet war, wie Jäger meint?) In Bezug auf Heidegger habe Adorno geglaubt, »im Lächeln über seine Sprache schon über ihn hinaus zu sein«. Es ist weitaus einfacher, über die Sprache alternativer philosophischer Entwürfe zu polemisieren als sie zu verstehen oder zu übersetzen. Wenn alle Philosophie Sprachkritik ist, ist sie damit nicht auch immer schon am Ziel.

Manchmal vervollständigen Mentalitäts- und Ideengeschichte das Bild. Die analysiert Jäger in der »Politischen Biographie« detailreich und klug. Es gelingt ihm jedenfalls, Adornos Moderne ein Stück abzurücken und dadurch besser erkennbar zu machen.

 

Ralf Schulte

 

Lorenz Jäger: Adorno. Eine politische Biographie

Pantheon, Paperback, Klappenbroschur, 320 Seiten, € 14,95

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

amazon