Der Teufel werkelt bei Minsk
„Sarah hatte sich von Schweden aus nach Theresienstadt aufgemacht, um nach den Pritschen zu suchen, auf denen wohl ihre beiden Großeltern einst ihr Haupt gebettet hatten, bevor sie umgebracht wurden, sie war eine von den Pritschensuchern…die kannten wir hier in Theresienstadt schon, es waren meist junge Leute, deren Verstand von den Greueln einer peinigenden Vergangenheit umnebelt war, vom Grauen, das ihren Eltern, in vielen Fällen eher ihren Großeltern und Verwandten, zugestoßen waren, und von der Vorstellung überhaupt, daß das alles wieder geschehen könnte…“
Der namenlose Ich-Erzähler dieses bitterbösen Buchs ist ein gebranntes Kind. Sein Vater kam kurz nach dem Krieg nach Theresienstadt und fand unter den Opfern ein halbtotes junges Mädchen, dem er wieder ins Leben half und es heiratete. Später wird sie, die sich nicht mal mehr aus der Stube des kleinen Häuschens in ebendieser Stadt getraut, ihr Leben selbst beschließen. Ihr Sohn, der zu Beginn des Buchs endlich aus der verfluchten Stadt entkommt, ist mit der Lagervergangenheit aufgewachsen, hat keine Distanz und demzufolge auch keine Scheu vor Gruben, Katakomben und Pritschen. Ihm sind die Überreste der Vernichtungslager nebst den in Ruinen streunenden Ziegen aufs Innigste vertraut. So wundert es nicht, dass Topol seinen Helden in immer apokalyptischere Abenteuer schlittern lässt. Alles beginnt ganz harmlos mit der Ankunft oben erwähnter Sarah, einer „Pritschensucherin“. Sie bleibt in Theresienstadt und lebt mit dem Ich-Erzähler und dessen „Onkel“ Lebo zusammen, neue Pritschensucher stoßen dazu und alle gemeinsam richten eine bizarre Kommune in Konkurrenz zur offiziellen KZ-Gedenkstätte ein, verkaufen Kafka-T-Shirts und Ghetto-Pizza, rauchen Gras, tanzen und singen und haben Sex. Bald lassen Behörden die anstößige Institution niederwalzen und zwei weißrussische Kommunarden, Alex und Maruška, verhelfen dem Ich-Erzähler zur Flucht nach Minsk. Irgendwo dort in der Nähe lag die „Teufelswerkstatt“, wo SS-Schergen und der NKWD gemordet haben. Unser tschechischer Experte soll anhand der Kontaktdaten reicher Juden, die er auf einem Stick bewahrt, beim Aufbau einer Gedenkstätte recht eigener Geschichtsdarstellung helfen. Bald erkennt er, dass er es hier nicht mit einer fröhlichen antimusealen Gedenkstätten-Kommune zu tun hat …
Jáchym Topol stattet seine Gedenkstätten-Groteske mit Thriller-Elementen aus, deren Anschaulichkeit dem Leser Schauer über den Rücken jagen. Der Minsker Stadtrundgang gerät zur Schatzsuche à la Indiana Jones, die Präsentation der noch unfertigen „Teufelswerkstatt“ zur pittoresken Horrorshow eines Gunter von Hagen Schülers …
Topol zieht die Kritik an der Ausrichtung und Kommerzialisierung unserer Gedenkstättenkultur auf eine surreale Ebene, die der Kunst zugestanden sei – aber gleichzeitig auf die Schwierigkeiten einer realen Lösung verweist. Was soll geschehen mit den Orten des Leids, egal welcher Diktatur des letzten Jahrhunderts? Osteuropa ist übersät von diesen Stätten, die Knochen der Opfer werden wir noch lange sortieren und zuweisen müssen. Jáchym Topols Roman ist nicht vorsichtig und leise, er zeugt von brutalen Umbrüchen und einer Ratlosigkeit, die unseren Erfahrungen entspricht. Das ist Gegenwartsliteratur, die trifft, die wehtut und anstößt, und das ist gut so!
Anne Hahn
Jáchym Topol, Die Teufelswerkstatt, Roman, Aus dem Tschechischen von Eva Profousová, 200 S., Suhrkamp Verlag Berlin 2010, 26,80 €