6. September 2010

Loch im Schrank

 

Wo die Genauigkeit im Detail fehlt, kann auch das große Ganze nicht stimmen; und wo das nicht stimmt, fallen die sinnlosen Details gar nicht mehr auf. Auf diese Formel kann man Peter Hackers und Maxwell Bennetts Kritik an den Forschungsergebnissen vieler Neurowissenschaftler bringen. Der britische Wittgenstein-Spezialist und der australische Hirnforscher möchten sie auf ein sprachlich sinnvolles Fundament verpflichten. Es wimmele in deren Arbeiten von Metaphern und falschen Analogien, unhaltbaren Übertragungen und alltagssprachlichen Ungenauigkeiten, Verzerrungen und Fehlschlüssen. Ein mehr oder weniger verdeckter, cartesischer Geist-Körper-Dualismus lebe darin auf.

Dieser sprachanalytischen Aufklärungsarbeit hatten Hacker und Bennett bereits im Jahr 2003 ein umfangreiches Buch mit dem Titel »Philosophical Foundations of Neuroscience« (PFN) gewidmet, in dem sie sich auch mit den Schriften der US-amerikanischen Philosophen John Searle und Daniel Dennett auseinandersetzen. Die wiederum antworteten auf einer Tagung im Jahr 2005 ihren Kritikern. Alle Debattenbeiträge liegen nun unter dem Titel »Neurowissenschaft und Philosophie« vor (übersetzt von Joachim Schulte), in dem Bennett und Hacker auch die ursprünglichen Thesen von PFN auf rund 70 Seiten zusammengefasst haben.

 

Der nicht nur philosophische, sondern juristische und gesellschaftspolitische Einfluss der Neurowissenschaften spiegelt sich seit längerem auf den Feuilleton- und Wissenschaftsseiten der Tageszeitungen: Neben der Wiederbelebung von Marxismus und Religion spielte die Theoriebildung um die Hirnphysiologie in der letzten Dekade eine herausragende philosophische Rolle. An einem empirischen Fundament sollte die Philosophie aus Gründen der Bodenhaftung schließlich auch interessiert sein. Zwar ist Philosophie keine exakte Wissenschaft, aber auch kein bloßes Diskursgefüge.

Doch naturalistische Argumente mögen willkommen sein – naturalistische Fehlschlüsse gerade nicht. Erst kürzlich stritten in der »Frankfurter Rundschau« Juristen und Neurowissenschaftler über das Konzept der Willensfreiheit und mögliche neue Konsequenzen für die Rechtsprechung (Winfried Hassemer: »Haltet den geborenen Dieb«; Gerhard Roth und Grischa Merkel: »Haltet den Richter«; Peter Janich: »Stillschweigende Hirngespinste«). Und einige provokante Überschriften scheinen einen auf aktuellen biologischen Entdeckungen beruhenden neuen Determinismus nahe zu legen (»Der Wille ist nicht frei«, Interview mit dem Hirnforscher Henrik Walter in »GEOkompakt«).

 

Solch plakativen Schlüssen liegen oft – wie Habermas gezeigt hat – Vereinfachungen, fehlende Komplexität, Reduktionen zugrunde; oder Kategorienverwechslungen. Entsprechend fehlt es auch Hacker und Bennett nicht an einschlägigen Zitaten, die demonstrieren, auf welche Weise Forscher die vermeintliche Funktionsweise des Gehirns verkehrt darstellen. Die kritisierten Textstellen kommen in folgender und ähnlicher Form vor: »Das Sehen können wir durchweg als ständiges Suchen nach Antworten auf vom Gehirn gestellte Fragen auffassen. Die von der Netzhaut ausgehenden Signale bilden ›Botschaften‹, die diese Antworten mitteilen. Das Gehirn benutzt diese Informationen sodann, um eine passende Hypothese über das, was vorliegt, aufzustellen« (Young). »Neurophysiologen und Neuroanatomen sprechen nunmehr von Karten im Gehirn, von denen angenommen wird, dass sie bei der Repräsentation und Interpretation der Welt durch das Gehirn eine Rolle spielen, die ebenso wesentlich ist wie die der Karten im Atlas für dessen Benutzer« (Blakemore). »Es muss im Gehirn eine symbolische Beschreibung der Außenwelt geben – eine Beschreibung, die in Symbole gefasst ist, welche für die verschiedenen Aspekte der Welt stehen, die uns durch den Gesichtssinn bewusst werden« (Frisby). »Die Fähigkeit des Gehirns, Wissen zu erwerben, zu abstrahieren und Ideale zu konstruieren« (Zeki). »Das Gehirn muss irgendwie dazu in der Lage sein, Informationen zu repräsentieren« (Marr). Und so weiter.

Die Einwände dagegen lassen sich eigentlich schnell zusammenfassen: Zwar lehnt die mittlerweile dritte Generation der Neurowissenschaftler einen Cartesischen Dualismus von sich aus immerhin ab. Stattdessen schreiben die betreffenden Forscher die psychologischen Eigenschaften nun aber dem Gehirn zu. Die neurowissenschaftliche Forschung unterliegt bei ihrer Begriffsbildung der »platonisch-christlich-cartesianischen« Tradition; oft gegen die eigene Intention, das Phänomen des »Geistes« irgendwie materialisieren zu wollen. Das Gehirn verhält sich den zugeschriebenen Attributen gegenüber jedoch völlig neutral, deshalb ist das Vorgehen nicht bloß falsch, sondern sinnlos: Das Gehirn ist »taub wie ein Baum«, und es kann sich aus logischer Sicht zu nichts entscheiden, weil es schließlich auch nicht unentschlossen sein kann.

Vielmehr ist es der Mensch, der handelt, entscheidet, interpretiert. Psychologische Prädikate können nicht auf Teile von Lebewesen, sondern nur auf Lebewesen zutreffen. Man darf deshalb von einem mereologischen Fehlschluss sprechen (griech.: meros = Teil). »Ganz im Sinne Aristoteles’ stellen wir nun fest, dass die Aussage, das Gehirn gerate in Zorn, der Behauptung gleicht, das Gehirn webe oder baue. Denn es ist gewiss besser, nicht zu sagen, das Gehirn habe Mitleid, lerne oder denke nach, sondern der Mensch tue dergleichen. Dementsprechend bestreiten wir, dass es sinnvoll ist zu sagen, das Gehirn habe Bewusstsein, spüre Empfindungen, nehme wahr, denke, wisse oder wolle etwas. Denn das sind Eigenschaften von Lebewesen, nicht des Gehirns.«

Zur Verdeutlichung – und mit autoritativem Nachdruck – rückt Hacker einen Satz Wittgensteins ins Zentrum. Das Zitat aus den Philosophischen Untersuchungen lautet, »man könne nur vom lebenden Menschen, und was ihm ähnlich ist, (sich ähnlich benimmt) sagen, es habe Empfindungen; es sähe; sei blind; höre; sei taub; sei bei Bewusstsein, oder bewusstlos.«

Aber hilft Wittgenstein? Dennett lässt einmal anspielungsreich einen »St. Ludwig« auftreten, und diese Heiligenfigur offenbart eine Schwäche in Argumentation und Methodik Hackers und Bennetts: Ihr Nachhilfeprojekt für die Naturwissenschaften ruht auf normativen, dogmatischen sprachphilosophischen Säulen. »Problematisch sind ... die neurowissenschaftlichen Fehldeutungen ... und die daraus resultierenden Missverständnisse. Sie lassen sich durch eine richtige Erklärung der logischen Grammatik der betreffenden Begriffe beheben. Und genau das ist es, was wir uns vorgenommen haben.« Wie das gelingen soll, klingt erst noch verblüffend einfach: »die Gebrauchsregeln lassen sich der üblichen Verwendung und anerkannten Bedeutungserklärungen entnehmen«. Aber augenscheinlich ist es doch nicht so leicht und wird dann ordnungsphilosophisch kompensiert: »Der Kritiker des Begriffsgebrauchs hat die Aufgabe, solche Verstöße gegen die Grenzen des Sinns zu ermitteln.«

 

Zu Recht wendet Daniel Dennett ein, nach Hacker sei Philosophie eben apriorisch, und er hält dagegen, die Untersuchung des Wortsinns müsse eine empirische Untersuchung sein. »Wenn Hacker dazu imstande wäre, uns die Regeln zu zeigen und darzutun, inwiefern die neuen Wortverwendungen diesen Regeln zuwiderlaufen, wären wir vielleicht dazu in der Lage, der gleichen oder einer anderen Meinung zu sein. Aber er erfindet das doch nur. Er hat keine Ahnung, welches ›die Regeln‹ für den Gebrauch dieser psychologischen Alltagsausdrücke sind.« Spricht Hacker überhaupt dieselbe Sprache wie die von ihm für ihren Wortgebrauch Kritisierten? Herrschen im Bereich der Neurowissenschaften nicht ganz andere Konventionen als in der Tradition der Oxford-Denker? Aus der Sicht des Kognitionsforschers ist es ein empirisches Faktum, dass unser Gehirn »an Prozessen beteiligt ist, die Mutmaßungen, Entscheidungen, Überzeugungen, voreiligen Schlussfolgerungen usw.« hinreichend ähnlich sind, um eine Erweiterung des normalen Sprachgebrauchs zu rechtfertigen. »Nun stößt Hacker ebenfalls auf diesen in der Neurowissenschaft allgemein verbreiteten Gebrauch intentionaler Ausdrücke und ist – ohne Witz – schockiert! So viele Leute machen derart krasse begriffliche Schnitzer! Dabei hat er noch gar nicht alles mitgekriegt. ... Computerspezialisten ..., kognitive Ethologen, Zellbiologen und Evolutionstheoretiker – sie alle beteiligen sich unbekümmert an diesem Spiel und bringen ihren Studenten bei, ebenfalls so zu denken und zu reden. Eine sprachliche Pandemie! Wenn Sie mal einen ganz normalen Elektrotechniker bitten, Ihnen die Funktionsweise einiger elektrischer Geräte in Ihrer Wohnung zu erklären, würden Sie eine Antwort erhalten, die vor intentionalen Ausdrücken strotzt.«

Es könnte alles so unterhaltend und einfach sein: Ist es aber nicht. Beide Fraktionen verteidigen über weite Strecken ihre Grundüberzeugungen. »Das Gehirn ist kein Organ des Bewusstseins. Man sieht mit den Augen und hört mit den Ohren, aber mit dem Gehirn ist man genauso wenig bewusst, wie man mit dem Gehirn spazieren geht.« Aber ein Teil welches Ganzen ist das Gehirn? Des Körpers? Des Menschen? Und wo befindet sich der Schmerz des Phantomschmerzes? Unter der Bettdecke? Hacker meint: Es ist wirklich das Bein, das weh tut. Searle sagt: Der Schmerz ist im Gehirn. Hacker: Wir glauben nicht, dass es im Gehirn Körperbilder gibt. Man stößt nicht auf Körperbilder, wenn man das Gehirn eines Menschen öffnet. Das klingt herrlich arglos. (Der Strafrechtler Winfried Hassemer (s.o.) verwendet einen ähnlichen Gedanken in ganz anderer Absicht: »Viele goutieren noch die Sottise des Pathologen, er habe beim Aufschneiden der Leiche eine Seele nicht entdeckt – und folglich könne es sie nicht geben.«) Wenn in der Jacke ein Geldstück ist und die Jacke im Schrank, ist das Geldstück im Schrank. Wenn in der Jacke ein Loch ist – ist dann etwa ein Loch im Schrank?

 

Manche Beispiele Hackers führen an die Sinngrenzen der grammatikalischen Analyse. Gegen das aberwitzige Karussell regt sich im Leser mit der Zeit ein rebellischer Common Sense. Könnte der vielleicht auch ein akademischer Ausweg sein? Etwas scheint dem im Weg zu stehen, und Searle beweist ein Gespür dafür mit seiner Beobachtung, die Debatte sei vom Geist und der Sprache der 1960er Jahre erfüllt. Einige in langen akademischen Karrieren gesammelte Überzeugungen werden ausgebaut, stark gemacht oder auch mal unter gespielten Qualen wiederholt erläutert: »Das sind simple Wahrheiten, doch wie es scheint, werden sie übersehen.«

Hackers Position ist sprachpragmatisch; was eine Person fühlt oder denkt, zeigt sich in ihrem Verhalten und findet nicht an einem ominösen Ort des Bewusstseins statt. Searle meint, das eine schließe das andere nicht aus. Eine lang währende Auseinandersetzung verlagert sich und flammt am Thema Neurowissenschaften wieder auf. Manchmal weisen solche terminologischen Inkompatibilitäten natürlich auch auf das Bevorstehen bedeutender Perspektivwechsel wie Kants »kopernikanischer Wende« hin. Wie müsste man auf die Sprache der Neurowissenschaftler blicken, um andersherum Erkenntnisse über unsere alltäglichen oder philosophischen Sichten des Denkens und des Bewusstseins zu erhalten? Lassen sich aus den »denkenden« Neuronen Rückschlüsse darauf ziehen, was Denken auf einer kleinsten »materiellen« Ebene heißen könnte? Die fraglichen Phänomene sind nicht nur zu klein, um sie zufrieden stellend zu beobachten, sie sind auch die beobachtbare Seite des Mysteriums der »Kausalität aus Freiheit«; die Naturgesetze scheinen nicht dahin vorzudringen. Und das führt zur Entfaltung terminologischer Fantasie. Doch bei aller berechtigten Kritik an vorschnellen metaphorischen Schlüssen auf dem Gebiet neuronaler Prozesse, Searles und Dennetts Toleranzen halten die Erkenntnismöglichkeiten selbst offener als Hackers sprachpragmatische Grenzbefestigungen.

 

Eingerahmt werden die Debattenbeiträge von einer Einleitung und einer hilfreichen Schlussbetrachtung des Geistesgeschichtlers Daniel Robinson. Er regt gegenüber scheinbar unhinterfragbaren »simplen Wahrheiten« einen Skeptizismus auf beiden Seiten an und zeigt, dass in der Philosophiegeschichte diskreditierte Ideen wie Descartes Geist-Körper-Modell manchmal auf überraschende Weise neue Relevanz erlangen können.

Vielleicht dürfen wir uns auch wünschen, durch Hackers Loch im Schrank entkäme der Geist den Anmaßungen der grammatikalischen Logik.

 

Ralf Schulte

 

Maxwell Bennett, Peter Hacker, John Searle, Daniel Dennett: Neurowissenschaft und Philosophie: Gehirn, Geist und Sprache, Suhrkamp 2010, 277 Seiten, 29,80 €

 

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