19. August 2010

Von der Selbsterfindung

 

In der bildenden Kunst ist „Armut an Information“ häufig ein Hinweis darauf, dass man es mit Konzeptkunst zu tun hat. Drei Zeilen Text, ein Objekt in verschiedenen medialen Realisierungen – mehr braucht es nicht. Konzeptkunst könnte man als Appetizer bezeichnen, wenn der Ausdruck nicht so ins Geschmäcklerische ging, mit dem sie eben nichts zu tun haben möchte. Auf der Seite des Produzenten ist Askese angesagt, und wie durch ein Wunder soll sich der Betrachter oder Leser davon den Bauch voll schlagen. Insofern kann man behaupten, dass die konzeptuellen Künstler die gläubigsten Verehrer von Prousts „Madeleine“ sind.

 

Frédéric Vitoux’ kleiner Roman Cartes Postales stammt aus dem Jahr 1973, also der Hochzeit der Konzeptkunst. Im Unterschied zu den bildenden Künstlern jedoch nimmt Vitoux die ganze Arbeit der Genese des Werks auf sich. In einem ersten Teil stellt er die minimalen Informationen vor, die er dann im Hauptteil weniger erweitert oder ergänzt, als dass er aus dem Bodensatz einen fliegenden Teppich zaubert. „Man muss alles neu erfinden.“, heißt es an einer Stelle. Und in der Tat: Wie lässt sich aus verschiedenen Stapeln von Postkarten, deren interne Ordnung man nicht kennt und erst untersuchen muss, so etwas wie eine Handlung herauslesen, eine Ordnung, aus der sich eine Erzählung stricken ließe? Die erste Tat des Autors ist zu raffinieren, wobei er feststellt, dass diese Tätigkeit beinahe von selbst geschieht, diese Namen bleiben eher im Gedächtnis als jene, scheinen eine stärkere erzählerische Kraft zu versprechen, bleiben einfach hängen, weil sie nicht mehr loslassen.

 

Unter der Hand bildet sich ein Gerüst, ohne dass man danach gefragt hätte. Und dieses Gerüst ist nicht mehr das der einzelnen, im Grunde immer eher langweiligen Postkarte mit den immer gleichen Motiven und den vertauschbaren Sätzen, die die Erlebnisse weniger komprimieren, als dass sie sie standardisieren; die Musterung wirkt wie ein Katalysator, und die Namen werden mit den Personen, auf die sie sich in den Postkarten beziehen, nichts mehr zu tun haben. Und obwohl Vitoux zuletzt einen ganz und gar realistischen Text geschrieben haben wird, hat das, was der Leser da liest, nichts mit der alten Mimesis zu tun. Vermutlich ist es dieses Paradox, das Vitoux gereizt hat, und genau das ist das konzeptuelle Moment an Cartes postales. Für Konzeptkunst ist dieses Werk außerordentlich lang, genau 200 Seiten. Und man muss sagen: Es ist zu lang, denn das, was der Erzähler da erfindet, ist doch nicht so spannend, als dass man dranbliebe, auch wenn Vitoux erzähltechnisch ein bisschen an der Zeitschraube dreht und Dinge, die später passieren, früher zu lesen gibt und umgekehrt Vorkommnisse, die zeitlich früher anzusiedeln sind, erst am Ende geboten werden. Das ist doch eher formalistischer Schnickschnack und liest sich doch ganz und gar konventionell.

 

Oder Frédéric Vitoux wollte eben das zeigen: dass man aus der „Postkarte“ nicht einfach so aussteigen kann, dass auch auf anderen, höheren Ebenen sich die gleichen Probleme stellen und der avantgardistische Impetus der Postkarte an sich aufsitzt. Am Ende sitzt der Erzähler erneut vor den Postkarten und fragt sich, warum diese Erzählung diesen Weg genommen habe und nicht einen anderen. Also: Vitoux hat einen furztrockenen kleinen romantischen Roman geschrieben.

 

Dieter Wenk (07-10)

 

Frédéric Vitoux, Cartes postales, Paris 1973 (Gallimard)