16. August 2010

Schneller, höher, weiter

 

China ist das Amerika des 21. Jahrhunderts. Das scheint die einzige Gewissheit zu sein, die man momentan zur Zukunft des Reichs der Mitte haben kann. Einzig Indien kann einigermaßen Schritt halten mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas. Indien scheint jedoch eher ein Aufsteiger am Rand zu sein, denn die Welt schaut nach China. Niemand investiert mehr auf dem afrikanischen Kontinent, als die Chinesen. Im Mittleren Osten haben chinesische Unternehmen den Amerikanern, Europäern und Russen den Rang abgelaufen. Und in seiner tiefsten Wirtschaftskrise hofft der Westen auf Chinas Unterstützung. China scheint also dort zu sein, wo Amerika vor einem guten Jahrhundert stand – an der Schwelle zur wichtigsten Nation des Jahrhunderts.

 

Als Alfred Stieglitz Anfang des 20. Jahrhunderts nach New York reiste, wurde er von der Faszination der Stadt, ihren Brüchen einerseits und ihrer lebendigen Entwicklung andererseits infiziert. Er hatte sein Lebensthema gefunden. Eine Reihe von New-York-Fotografien veröffentlichte er unter dem Titel „City of Ambition“. Während viele andere die zeitgemäße New-York-Impression in detaillierten Aufnahmen der dunklen Straßen und Gassen suchen, ist sie Stieglitz gelungen, indem er zurückgetreten ist, seinen Blick auf die Wolkenkratzer gerichtet und ein Panorama der Stadt festgehalten hat. So sehr Stieglitz Fotografien mit New Yorks Dunst und dem Nebel spielen, so sehr repräsentieren sie bis heute ikonisch das Amerika des 20. Jahrhunderts.

 

Damit sind bereits die Parallelen zu der Bilderserie genannt, die der türkische Fotograf Ferit Kuyas nun im Benteli-Verlag veröffentlicht hat. „Chongqing – City of Ambition“ lautet der vielsagende Titel seiner Fotoserie mit Bildern aus der chinesischen Metropole. Wie Stieglitz begnügt auch er sich nicht mit dem gewohnten Bild, welches in unseren Medien von früh bis spät zitiert wird – dieses bunt-leuchtende, quirlige China der Mittelklasse. Seine Bilder dokumentieren insofern auch die Veränderungen, die sich in seinem Leben und um ihn herum vollziehen, sind biografische Dokumente. Auch das hat er mit Stieglitz gemein. Und wie der Pionier unter den Fotografen ist auch Kuyas in gewisser Weise zurückgetreten und hat sich dem Sog der Millionenmetropole Chongqing – im Westen kaum bekannt – entzogen. Für seine Spurensuche nach einem aktuellen China-Bild ist er an die Ränder der Stadt gegangen, quasi an den Nabel des Wachstums, wo die Stadt an jedem Tag neu verfällt und entsteht.

 

Entstanden sind dabei faszinierende Aufnahmen einer Stadt, deren Zukunft zwar im Nebel liegt, dort aber in Dimensionen ruht, die kaum vorstellbar sind. Kuyas macht dem Betrachter seiner Bilder die herrschenden Giga-Dimensionen komparativ begreifbar, d. h. die Länge einer im Nebel auslaufenden Brücke wird erst begreifbar, wenn man das winzige Hausboot am unteren Rand des Bildes betrachtet. Das Ausmaß des Jangtse-Arms wird nur durch zwei Angler deutlich, die fast mit dem Geröll am Ufer verschmelzen. Baustellen, Parkplätze, Wohnanlagen, die gigantischen Ausmaße, in denen diese entworfen worden sind, werden erst sichtbar, wenn wir bekannte Bezugsgrößen wie Kräne, Busse oder Autos winzig auf diesen Bildern erkennen. Kuyas macht eine Vision sichtbar, über deren Inhalt man zwar streiten kann. Sie abzustreiten ist aber mit diesen Bildern unmöglich. Eine Vision, die von einem unbändigen Wirtschaftswachstum, von Hoffnung und Aufstieg, aber auch von Geschichtsvergessenheit, Raubbau und gesellschaftlichen Brüchen erzählt. Ihr Titel? China – State of Ambition!

 

Einige seiner Bilder, die den Eindruck von Ruhe und Meditation erwecken, haben im modernen Sinn die Eigenschaft eines Trompe-l’œil, denn diese Ruhe ist im Moment des Betrachtens längst weggewischt vom rasanten Tempo des Wachstums der Stadt. Wo Kuyas noch Ruhe fand, wird sich inzwischen eine Baustelle oder bereits ein fertiggestellter Produktions-, Wohn- oder Amüsierkomplex finden. Und so steht seine jetzige Heimatstadt Chongqing für ganz China. Das rasante Wachstum hält das gesamte Land in Atem – ein Wachstum, welches die riesigen sozialen Probleme teilweise erst sichtbar macht, die es angehen sollte. Diese wirtschaftliche Expansion hat kaum einen Winkel des Landes unberührt gelassen und China für immer bis zur Unkenntlichkeit verändert. Wer heute China bereist, wird es morgen schon nicht mehr wiedererkennen – auch das machen Kuyas Fotografien deutlich.

 

Und über all dem liegt der alles umschließende, fast undurchdringliche Nebel, ein beißendes Gemisch aus giftigen Abgasen und den Verdunstungen der Megaflüsse Jangtse und Jialing, die in Chongqing zusammenfließen.

 

Thomas Hummitzsch

 

Ferit Kuyas: Chongqing – City of Ambition. Benteli Verlag. Sulgen 2009. 112 Seiten, 65 Abbildungen, 39,- Euro, ISBN: 3716516058

 

www.benteli.ch