5. Juli 2010

Der Chinese der Koppelung

 

Niklas Luhmann war nie in China. Wie Immanuel Kant immer in Königsberg war, war Niklas Luhmann immer in Bielefeld. Dennoch: Manchmal ist man geneigt, sich den theoretischsten der Soziologen als einen Chinesen vorzustellen. Oder als einen Buddhisten. Er hat ja niemals für was auch immer demonstriert. Man findet ihn nicht auf der Straße, sondern im Kopf. Als Einstellung. Als ein bestimmtes Verhältnis. Dieser gewissermaßen östliche Zug, den auch der Philosoph Edmund Husserl teilt (und, nach Peter Sloterdijk, auch Martin Heidegger), ist einer ganzen Reihe von Luhmann-Lesern aufgefallen.

 

Dirk Baecker zum Beispiel spricht an einer Stelle von „chinesischen Weisheitslehren“ – und in der Tat: Schaut man sich klassische chinesische Texte zu Strategie und Kriegsführung an, so fällt auf, dass in ihnen das  Systemische oder Situative viel stärker berücksichtigt ist als die Analyse von Individuen, von deren „Charakter“ oder „Ego“ genau das oder das abhängen würde. Viel eher sind die Einzelnen, wie genialisch sie auch sein mögen, eingelagert in größere Einheiten und Prozesse. Der französische Sinologe und Philosoph François Jullien ist in zahlreichen Publikationen dieser Umkehrung westlichen Verhältnisgutes nachgegangen. Auch der in den USA lehrende Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht hat sich Gedanken gemacht über die offensichtliche Subjektlosigkeit des Luhmannschen Theoriegebäudes, um zu mutmaßen, dass Luhmann es habe vermeiden wollen, seine Theorie abzuschließen.

 

Die Frage ist natürlich, ob überhaupt mit der Einfügung einer solchen Position ein Gebäude abzuschließen ist oder ob umgekehrt eine solche Schließung möglich wird auch ohne das Subjekt. Formulierungen wie die der „operationalen Schließung“ lassen das durchhaus möglich erscheinen. Wenn man jedenfalls die Kategorie des Subjekts mit „Alteuropa“ verbindet, so leuchtet es ein, China zumindest als Formkandidaten eines anderen Denkens, das auch das Luhmannsche einschließen würde, in Stellung zu bringen. Vielleicht hätte Luhmann irgendwann mehr Geschmack gefunden an prozessualen Beschreibungen, die die strikte Binarität etwa von System und Umwelt überwunden hätten, wenn er sich mehr auf einen Begriff eingelassen hätte, den Gumbrecht zu Recht als „interessant“ einschätzt, nämlich den der (strukturellen) Kopplung, den Luhmann, so Gumbrecht, „nie ganz entfaltet hatte“. Hier hätten ja all die Überlegungen Platz, die auch schon das alte chinesische Denken auf Trab gehalten haben, nämlich solche über Simulation, Dissimulation und Virtualität. Solche virtuellen Einlagerungsstrategien mit wirklichen Konsequenzen sind doch unglaublich spannend, sollte man meinen.

 

Das wünschte man sich ein bisschen mehr bei der weiteren Beschäftigung mit Niklas Luhmann. Die Texte, die in diesem Sammelband vorliegen, gehen zum großen Teil auf 1999 in Freiburg gehaltene Vorlesungen zu Ehren des 1998 verstorbenen Luhmann zurück. Sie sind alle sehr unterhaltend, auch wenn sie nicht unbedingt Neues auf den Tisch bringen. Allein Gumbrecht erlaubt sich neben seiner Würdigung auch eine kritische Stellungnahme, und er ahnte, dass die Phase Luhmannscher Schwerpunksetzung, die dritte und letzte, die der Analyse des Zweiten Beobachters gewidmet ist, die – in Gumbrechts Augen, leider – die sein würde, die am stärksten rezipiert würde, was ja auch eingetroffen ist. Und Gumbrecht hat recht: Luhmann hat das Subjekt nie wirklich aus seiner Theorie austreiben können, die Tätigkeit des Zweiten Beobachters mit all seinem Wissen um andere und vorgelagerte Positionen bringt genau das wieder ein in die Theorie, was eigentlich gelöscht sein sollte.

 

Schlimm ist das nicht, denn die Zeit der Fetischisierung von entweder Subjekthaftigkeit oder Subjektlosigkeit scheint erst mal vorbei zu sein. Zur Entspannung dieser Lage hat Luhmann, so will es scheinen, stetig und beharrlich beigetragen. In 100 Jahren wird das Konzept der Kopplung nicht länger ein bloßes Konzept sein, sondern quasi-organische Realität.

 

Dieter Wenk (06-10)

 

Luhmann Lektüren (Baecker, Bolz, Fuchs, Gumbrecht, Sloterdijk), hg. von Wolfram Burckhardt, Berlin 2010 (Kulturverlag Kadmos Berlin), Ableger Band 6

 

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