29. Juni 2010

»Der indiskrete Blick – Ein Pelz aus Dingen«

 

Fotos und Zeichnungen zu den Sammlungen von Hajo Schiff. Zeichnungen von Julia Münz und Fotografien von Klaus-Henning Hansen

 

Was würde wohl ein professioneller Aufräum-Dienstleister zu so einer Wohnung sagen? Wahrscheinlich wäre er begeistert, solche Dienstleister unterscheiden in erster Linie zwischen sogenannten »Volltischlern« und »Leertischlern«, und das Einzige, was sie interessiert, ist, ob eine nachvollziehbare Ordnung herrscht. Wenn man ruhig hinschaut auf diese Bilder, sieht man die Ordnung sofort. Als ausgesprochen unordentlicher Mensch sieht man sie allerdings erst spät.

Am besten, man beginnt mit den Büchern. Bücher funktionieren in dieser Wohnung unter anderem als Spationierungen. Das sind paradoxerweise vollplastische Leerräume, Spatien ermöglichen nämlich das Erweitern (eben das Spationieren) der Wort- und Zeichenabstände in einer Bleisatzzeile.

In diesem Fall ermöglichen sie einen Abstand zwischen zwei Dingen, die keine Bücher sind. Wie man überhaupt schneller vorankommt mit diesem kleinen Text, wenn man hier unterscheidet zwischen »nicht Büchern« und »Büchern«. (Dieser Text ist ohnehin ein bisschen ruppig, weil er sich nur mit den abgebildeten Sachen befasst, und nicht, wie sonst üblich, mit den Abbild-Schaffern, den Künstlern, in diesem Fall der Zeichnerin Julia Münz und dem Fotografen Klaus-Henning Hansen.)

Spationierungen also. Nun, die Sache mit dem Bleisatz ist ja so ein bisschen aus der Mode gekommen, wie man auch von dieser Wohnung sagen kann, dass sie dem Gebot der Flexibilität, dem klaren, übersichtlich strukturierten, dem schlank programmierten des derzeitigen Lifestyle diametral gegenübersteht. Wenn man hier mit Lifestyle-Feng-Shui argumentieren will, müsste man brutal vom Feng-Shui des Gerümpels sprechen.

Wie kommt es nun überhaupt zu einer solchen Sammlung? Man kann versuchen, es mit physikalischen Termini zu erklären, dass sich einem dabei ständig eine Gewässermetapher aufdrängt, liegt selbstverständlich an Hajos Nachnamen.

Turbulente Strömungen sind gekennzeichnet durch meist dreidimensionale, scheinbar zufällige Bewegungen von Teilchen. Kommt diese Strudelbewegung ein wenig zur Ruhe, beginnt ein Prozess der Sedimentation. Dabei schichten sich die sich ablagernden Teilchen aufgrund ihrer unterschiedlichen Absinkgeschwindigkeit nach ihrem Gewicht und ihrer Größe. Die Teilchen mit größter Sedimentationsgeschwindigkeit lagern sich zuerst ab, liegen also zuunterst. Praktisch sieht das so aus: Hajo Schiff wird, wenn er mit einem Schrank nach Hause kommt, diesen eher abstellen als eine Postkarte, die sich irgendwo in seinen Jackett-Taschen befindet.

Es ist sehr wichtig, beim Betrachten dieser Fotos und Zeichnungen im Blick zu behalten, dass sich solche Gebilde nicht »einfach so« formen, sondern von einer Energiequelle zu solchen Konstellationen zusammengeschoben werden, und diese Energiequelle ist in diesem Fall der Bewohner dieses Gehäuses, der die freundliche Einsicht hat, an den architektonischen Gegebenheiten nicht zu rütteln, die Wände, Decken und Fenster also vor seiner Energie verschont bleiben, man kann sogar Rudimente einer früheren, anderen Nutzung der Wohnung ausmachen, denn eine Leiter führt immer noch hinauf zu einem für Wohngemeinschaften typischen Hochbett. Ein wohnliches Phänomen, dass sich nunmehr seit 50 Jahren ungebrochener Beliebtheit erfreut, ähnlich den VW-Bussen, die man ausbaut, um damit nach Portugal zu fahren.

Nun, herangeführt werden die Schwebstoffe in der Regel durch Erosionsprozesse anderenorts, also durch Verwitterung. Das sind zum Beispiel Ausstellungseröffnungen, von denen Postkarten, Kataloge und Tragetaschen erodieren. Je nach der Entfernung zum Abtragungsort weist die Korngröße der von Hajo Schiff mitgeführten Partikel deutliche Unterschiede auf. Hierbei gilt als Faustregel, dass die Korngröße der Partikel mit der Entfernung abnimmt, hierzu bitte noch mal das Beispiel mit dem Schrank erinnern, den man unmöglich aus Venedig mitbringen kann, wohl aber einen Katalog. Dies ist aber wirklich nur eine Faustregel, da es in dieser Wohnung einige sehr große Stücke gibt, die offensichtlich von sehr weit weg hierher kommen.

Man kann das so entstehende Gebilde Lido nennen oder auch Haff, entscheidend ist, dass sich Teilchen schneller ablagern, wenn mindestens ein anderes Teilchen schon platziert ist, also für die Beruhigung der Turbulenzen sorgt, als normaler Mensch bildet man Haufen, Stapel, Listen etc. Man kann das auch noch anders erproben: Stellt man sich an einem Samstagmittag in einer Fußgängerzone still in die Mitte des Wegs, versammeln sich nach nur wenigen Minuten andere Personen, ja ganze Gruppen, entlang der Hauptbewegungsrichtung im eigenen »Strömungsschatten«, auch wenn diese gar nichts mit einem zu tun haben.

Das ist jetzt der entscheidende Unterschied zwischen der Fußgängerzone und den Partikeln, die wir hier sehen, denn sie haben vielleicht nichts miteinander zu tun, aber alle haben etwas mit Hajo Schiff zu tun, welcher diese beziehungsreich gruppierte. Das ist auch der Grund, weshalb man sich in dieser Wohnung keine noch so begabte Putzkraft vorstellen mag. Denn jeder Unbeteiligte, der an diesen Konstellationen rückt, verschiebt eine uns nicht offenbare Bedeutung. Vielleicht könnte man einen Restaurator da ranlassen, das ist aber wirklich das Äußerste. Ein Verschieben oder Verrücken würde hier bedeuten, dass der Sinn kollabiert und alles tatsächlich zu einem ordinären Haufen Gerümpel zusammenstürzt, das hat dann mit Feng-Shui aber eben gar nichts mehr zu tun.

Hier sind es nun aber spezielle einander ansteckende Gedanken und Erinnerungen, die unter Umständen wiederum weitere Dinge auf den Plan fordern, um die Angelegenheit komplett zu machen. Das ist eine Konversationstechnik mit Dingen. Die Dinge müssen also zuverlässig an ihren Plätzen zu finden sein, andernfalls reißt die Rhetorik ab, da die Logik dahin ist und die Grammatik sowieso flöten gegangen ist.

Man kennt die Technik der einander ansteckenden Gedanken mit Ding-Unterstützung, von den Kunst- und Wunderkammern. Dort geht es stets um das Wunderliche der betrachteten Dinge wie auch um die Verwunderung des Betrachters. Von der Wunderkammer zu schreiben ist nun ein bisschen lahm, denn natürlich denkt man das sofort und fühlt sich auch sogleich ein wenig schlaumeierisch gebildet, vergisst dabei aber, dass diese Höhle kein Museum ist, sondern ein Lebensraum. Es gibt schließlich auch einen Schlafplatz, eine Küche und überhaupt alles, was man auch von seiner eigenen Wohnung kennt, die Topfpflanzen nicht zu vergessen, lediglich die Enge ist speziell. Man stelle sich nur den Fotografen vor, wie er in den schmalen Prielen dieser Wohnung versucht, ein Stativ zu platzieren ... Es gibt, und das ist wichtig zu erwähnen, einen Schreibtischarbeitsplatz, einen großen Bildschirm, auf dem verräterischerweise gerade an der Vervielfältigung von Information gearbeitet wird, denn mit dem Programm »nero« werden üblicherweise Daten auf CDs gebrannt ... In dieser Höhle werden nämlich, außer dass Dinge sedimentieren, ständig neue Daten generiert. Womit ich wieder bei der Eingangsunterscheidung zwischen »nicht Büchern« und »Büchern« gelandet wäre.

Informierte Gegenstände, also alle diese kleinen und großen Dinge wechseln hier ab mit Informationen, die man buchstäblich gelesen haben muss, man kann sie nicht begreifen, erst recht, wenn es sich um Fotos und Zeichnungen von Büchern handelt und Anfassen also sowieso verboten ist und obendrein unsinnig, kurzum, der bloße Augenschein reicht nicht. Mut zur Lücke! Das sind eben die Spationierungen, die Buchrücken wirken eben fast so wie Leer- oder Pausenzeichen, da man nicht weiß, was in dem Buch drin ist, nur der Titel lässt etwas ahnen.

Man kann aber getrost davon ausgehen, dass ein großer Teil dieser Bücher als Studien- und Belegexemplare vorliegen, und nicht als Fetische, da Hajo Schiff mit zur Bücher-voll-schreibenden Zunft zählt. Diese Bücher sind also nicht stumm, auch wenn die beachtliche Stapelhöhe sie so fest und tonnenschwer zusammendrückt, dass das Durcheinandergebrabbel Tausender Autoren nicht zu vernehmen ist. Ich stelle mir diese Wohnung sehr leise vor, obwohl es kein Museum ist, keine Bibliothek und trotz der vielen Seitenaltäre keine Kirche.

An diesem Punkt sollte man auch noch erwähnen, dass es andere Menschen in dieser Stadt gibt, die auch schreiben und auch sehr enge Wohnungen haben, weil sie voller Bücher sind, allein, und hier kommt der Aufräum-Dienstleister wieder zu Wort, diese anderen Wohnungen sind meistens unordentlich, die Bewohner fürchten sich vorm aufräumen, finden oft tagelang nicht, was sie suchen, dafür aber mit Glücksgeschrei zufällig 30 andere Dinge, wobei sie vergessen, was sie zuvor suchten. Sie sind, kurz gesagt, eher aus Verlegenheit, denn aus Überzeugung im Besitz der Dinge, die ihnen den Atem nehmen.

Die Überzeugung ist, was so unheimlich ist an dieser Wohnung. Es ist das Absichtsvolle, das Offensichtliche einer Idee, der man aber nicht folgen kann, da es schlicht zu viele Informationen dazu gibt.

 

Nora Sdun