27. November 2009

Heldengedenkstätte

 

Es schien, als habe Quentin Tarantino mit seinen „Inglourious Basterds“ eine Stelle eingenommen, die es so in der nackten Wirklichkeit nicht gegeben hat: die Stelle des widerständigen, aufsässigen, heldenhaften Juden während der Zeit der Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten. Diese kleine Befreiungsarmee – alles nur ein Traum im Kino? Sind alle Juden wie die Lämmer auf die Schlachtbank geführt worden? Vielleicht um diese Unerträglichkeit etwas abzumildern, wenn nicht zu rechtfertigen, sprach Claude Lanzmann einmal den ungeheuerlichen Satz aus: „Niemand ist in Auschwitz gewesen.“

 

Hinter diesem Satz steht kein Holocaust-Leugner, sondern jemand, der behauptet, dass die Juden gar nicht wussten, wohin sie gebracht wurden, sie, die auch noch für ihre letzte Zugfahrt bezahlten. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn die Juden es gewusst hätten, dann wäre die Geschichte anders verlaufen. Doch Claude Lanzmann hat sich mit dem oben zitierten Satz nicht zufrieden gegeben. Er hat sich auf die Suche gemacht, um aus einem Konditional- ein Realitätsverhältnis werden zu lassen. Und er hat sie gefunden, die diskreten, aber stolzen jüdischen Widerständler, die sich aus einer scheinbar ausweglosen Lage befreiten. Im Grunde sieht ja Yehuda Lerner wie ein Kinoheld aus. Mit diesem Zucken am linken Mundwinkel, womit er an „Beat“ Takeshi Kitano erinnert.

 

Lanzmann interviewte Lerner bereits Ende der 70er Jahre während seiner langjährigen Arbeit an seinem Monumentalfilm „Shoah“. Entstanden ist dann aber ein eigenständiger Film, „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“, in dem Yehuda Lerner vom Aufstand im Vernichtungslager Sobibor erzählt. Der jüdische Aufstand paarte sich hier aufs Glücklichste mit der deutschen Pünktlichkeit. Es ist das Lebensthema geworden von Claude Lanzmann in seiner zweiten Lebenshälfte: Stimmen zu finden, die von solchen Situationen zu berichten wussten; dem Cliché vom widerstandslosen Juden zu widersprechen. Der Jude Lanzmann war selber potenzielles Opfer in der Zeit der deutschen Besetzung Frankreichs. Als Jugendlicher gehörte er mit Mitschülern zum „maquis“. Er wurde als Bote eingesetzt und riskierte mit geheimen Waffentransporten sein Leben. Und er kämpfte direkt an der Partisanenfront. Sein Vater hatte ihn als Kind das Fliehen gelehrt. Denn man wird nicht als „patagonischer Hase“ geboren.

 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist Lanzmann auch in Berlin, er arbeitet als Sprachlehrer und schreibt erste Artikel über Deutschland. Über diese Artikel wird Jean-Paul Sartre auf ihn aufmerksam, nach Lanzmann „der größte Schriftsteller Frankreichs“. Lanzmann wird Mitarbeiter der legendären „Temps modernes“, deren Herausgeberschaft er nach dem Tod von Sartre und Simone de Beauvoir in den 80er Jahren übernehmen wird. Die Herzen der berühmtesten und schönsten Frauen werden von Lanzmann gebrochen, über Jahre verbindet ihn eine Liebesbeziehung zu Simone de Beauvoir, zu der er bis zu ihrem Tod freundschaftlich verbunden bleiben wird; er heiratet die „schönste Frau Deutschlands“, Angelika Schrobsdorff.

 

Die bizarrste Liebesgeschichte spielt sich allerdings nicht auf dem alten Kontinent ab, sondern im fernen Osten, in einem Land, dessen Wirklichkeit man immer wieder gerne anzweifeln möchte, so absurd scheint die Zumutung an die menschliche Vorstellungskraft: Nordkorea. Eine Geschichte aus den 50er Jahren, als Lanzmann mit einer französischen Abordnung Pjöngjang besuchen durfte und in einem Krankenhaus auf die Krankenschwester Kim Kum-Sun stieß, in die er sich sofort verliebte, sie sich in ihn, und die beiden, verfolgt und gehetzt von den omnipräsenten Gestalten der „Juche“, es nicht schaffen, ein kleines Liebesnest im großen Überwachungsstaat sich einzurichten. Pjöngjang ist die Stadt des „Als-ob“, der von bellenden und doch automatenhaft wirkenden Polizistinnen geregelte Verkehr ist ein reiner Fußgängerverkehr. Dieser Liebesfilm wird niemals gedreht werden können, aber Lanzmann stellt sich trotzdem vor, wie er aussehen würde: die Kamera über der Stadt streifend, dazu allein die Stimme Lanzmanns aus dem Off, der die Geschichte zwischen sich und Kim Kum-Sun erzählt.

 

Es gibt sie noch, die verbotenen Plätze, die verbotenen Bilder. Und das ist ein wichtiger Grund, warum sich die Arbeiten an Lanzmanns größtem Filmprojekt, „Shoah“, so lange hinzogen. Wie kommt man an Bilder von Leuten heran, die absolut kein Interesse daran haben können, gefilmt zu werden. Man weiß, dass alle Filmbilder Lanzmanns aus seiner eigenen Kamera stammen, dass er darauf verzichtete, auf Archivmaterial zurückzugreifen. Ohne den beinharten Willen zur Wahrheit wäre „Shoah“ niemals entstanden. An die überlebenden Opfer heranzukommen war schon schwer genug (Karski), aber wie erst mit den „Verantwortung“ tragenden Nazis in Kontakt kommen und sie auch noch zur Teilnahme an einem Film bewegen, der sie bloßgestellt hätte. Das ist schon sehr spannend, manchmal auch sehr amüsant zu lesen, welche Tricks Lanzmann anwandte, um die Mauer der Bereitschaftslosigkeit zu durchbrechen und die Täter zu „passe-murailles“ umzupolen. Meistens musste er feststellen, dass sie die Mauerexistenz bevorzugten.

 

Der letzte Teil  dieser großartig geschriebenen Memoiren (genauer: diktierten Memoiren, denn es handelt sich dabei um ein Stück „oral history“) widmet sich dem Mammutprojekt „Shoah“, an dem Lanzmann etwa zwölf Jahre arbeitete und das auf durchaus geteiltes Echo stieß. In Polen kam dieser Film gar nicht gut an und durfte zunächst auch nicht gezeigt werden. In den USA versuchte Lanzmann noch zu Drehzeiten den „fund-raiser“ zu spielen, ohne jeden Erfolg, da die Hollywood-Ummantelung fehlte. Dieses Buch, die Autobiografie Lanzmanns, könnte man sich allerdings sehr schön als Film à la Hollywood vorstellen. Oder waren die „Ruhmweichen Basstards“ vielleicht schon die zeitgleiche Antwort auf den „patagonischen Hasen“?

 

Dieter Wenk (11-09)

 

Claude Lanzmann, Le lièvre de Patagonie  Mémoires, Paris 2009 (Gallimard)

 

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