23. Oktober 2009

Kollabierte Vertikalspannung

 

Sloterdijk ein Sozialdemokrat?

 

 

Du mußt dein Leben ändern! - die Parole, mit der Sloterdijk seit dem Frühjahr die mediale Öffentlichkeit in der Anredeform des generalisierten Du agitiert, lässt sich, mit einem Lieblingsbegriff von ihm, auch in die Aufforderung übersetzen: mehr Vertikalspannung! Der Ausdruck steht für das Gegenteil der intellektuellen Entspannung in der Horizontalen des Unernstes und einer pandemischen Trivialisierung, des Behagens in der Kultur an deren substantiellem Nullpunkt. Den Sündenbock der kulturellen Abwärtsspirale macht der unter die Dekadenzdiagnostiker Gegangene in einem „subversiven Egalitarismus“ der politischen und mehr noch der intellektuellen Linken aus. Dem hält er die empirische Ungleichheit des Könnens entgegen, wie sie aus dem Wettbewerb des Sich-Übens als der praktischen Seite der Vertikalspannung hervorgeht, ein sloterdijksches Exzellenzcluster, das wie sein hochschulpolitischer Zwilling behauptet, die Besten zum Wohle des Ganzen nach Vorne zu bringen.

 

Die Rezeptur und der Glaube an ihre Wirksamkeit haben Konjunktur traditionell im konservativen oder 'rechtsliberalen' Milieu. Der Zeitgeist, der inzwischen wieder von dorther weht, zeigt sich Sloterdijks Gedanken aufgeschlossen. Die Rezensenten seines jüngsten Buches haben sie durchweg goutiert und nicht gerade mit analytischem Scharfblick traktiert. Sodass ihnen entgangen ist, worin das Riskante seines „riskanten Denkens“ (so Hans-Ullrich Gumbrechts Typisierung in DIE ZEIT Nr. 41) besteht. Ich habe dies an anderer Stelle ausgeführt (siehe meine Beiträge im Netz: Theomag – Internetzeitschrift für Religion und Ästhetik Nr: 59/2009 sowie online-Magazin Textem.de vom 18.09.09); hier sei zusammenfassend bloß meine These wiederholt.

 

Der einmal gegen den verhängnisvollen Furor der „kopernikanischen Mobilmachung“ den Gedanken einer „ptolemäischen Abrüstung“ ins Spiel brachte, setzt jetzt ganz auf den Überbietungsgestus à la Nietzsche, Gipfelstürmerei mit Höhenrausch. Durch aristokratisch-sportive wahlweise asketisch-artistische Übung, die Praxis der Vertikalspannung, werden Einzelne im Aufstiegswettstreit untereinander als Einzelne besser und besser, bis „anthropotechnisch“ antrainierte Fitness die Besten, das Mittelfeld und den Rest im aufwindigen Schlepptau, auf Augenhöhe gebracht hat mit dem „Inkommensurablen“, “Ungeheuren“, „bedingungslos Überfordernden“ der globalen Gegenwartskrise, der drohenden ökologischen und Klimakatastrophe zumal. In einem von denen, die gekonnt genug ihr Leben geändert haben, sprich der ethisch-spirituellen Meritokratie, inaugurierten weltweiten „Ko-Immunismus“ sollen dann „die guten Gewohnheiten gemeinsamen Überlebens“ gepflegt werden.

 

Punkt der Kritik kann nicht sein, dem Vorhaben die edle Gesinnung abzusprechen, auch nicht in erster Linie zu monieren, dass Sloterdijk die einer Lösung der Globalkrise im Wege stehenden politischen, sozialen, kommunikativen etc. Hindernisse mit seinem „absoluten Imperativ“ kurzerhand überspringt. Das Riskante des von ihm Gedachten kommt in den Blick, sobald in Erwägung gezogen wird, dass die propagierte Umkehr womöglich gar keine ist. Folgt doch das auf Perfektibilität setzende Metanoia-Tremolo Sloterdijks genau der Steigerungslogik und Optimierungsobsession, die charakteristisch sind für die rasende, ökonomisch und ökologisch außer Rand und Band geratene Moderne. Dass das Kurativ hierfür ausgerechnet in einem Virtuosen- und Artistenwettlauf liegen soll, ist ebenso wenig überzeugend, wie die subtile Schuldzuweisung an „die Vielen“, dass ihre „Verweigerung die Spannung (verschärft), die über dem humanen Kollektiv liegt“ - jene schon von Rilke perhorreszierten „Leibes- und Lebensschwächlinge“ mit der „gewohnten Verwahrlosung“, gegen die er die „Trainerautorität“ seiner Steigerungskünstler (diese haben „mit einem Gott trainiert“) aufbietet. - Kurz, ein anthropologisches Selbstverbesserungsprojekt nach dem Strickmuster Sloterdijks geht das Risiko ein, dass es statt der intendierten Kehrtwendung lediglich auf ein Mehr desselben hinausläuft. Der riskante Denker ist einem Trugschluss der fatalen Sorte erlegen, der allerdings bei gedanklicher Vertikalspannung sofort ins Auge sticht.

 

Nun hat Axel Honneth in DIE ZEIT (Nr. 40) eine 'neue Sloterdijk-Debatte' ausgelöst, indem er dessen wie eine Vorwahlkampfrede daherkommende Tirade gegen die (so Sloterdijk wörtlich) „Kleptokratie“ des Umverteilungsstaates in der FAZ (10.06.09) aufs Korn nahm: Im Klartext laute Sloterdijks Vorschlag, man solle den Sozialstaat abschaffen und durch die (wieder Sloterdijks Worte) „Gabe“ einer „schenkenden Tugend der Wohlhabenden“ ersetzen. Dass der Angegriffene (wiederum in der FAZ, 26.09.09) mit einem Bekenntnis zur Sozialdemokratie antwortete („unverbesserlicher Verteidiger einer sozialdemokratischen oder ... semi-sozialistischen Logik“), also jener politischen Philosophie, in welcher der durch ihn im Buch geschmähte Egalitarismus doch einen säkularen Ausdruck gefunden hat – dieser bei jedem nicht vollkommen naiven Leser Heiterkeit provozierende „Kollapsus“ lässt unglücklicherweise jene andere, sachlich schwerwiegendere Inkonsistenz, auf die wir im vorangehenden aufmerksam gemacht haben, aus dem Blick geraten. Dabei dürfte die eher unterhaltsame Ungereimtheit des 'Sozialdemokraten Sloterdijk' einem vorübergehenden Spannungsabfall im Wort- und Textegenerator Sloterdijk geschuldet sein, wie er unvermeidlich erscheint bei jemandem, der unentwegt auf Sendung sein möchte. Vielleicht sollte daher im Falle des gestressten Medienphilosophen Gnade vor Recht ergehen, vorausgesetzt, man geht, wo hinlänglich stringente Textkonvolute es zulassen, in der Sache mit ihm umso strenger ins Gericht.

 

So wie es Christoph Menke exemplarisch in seinem Debattenbeitrag (DIE ZEIT Nr. 43) vorführt. An Sloterdijks Text weist er auf, wie dessen Vertikalspannungs- und Elitegedanke ein Essential der humanen oder zivilisierten Gesellschaft ideologisch zu unterminieren droht: das basale Gleichheitsprinzip einer allen geschuldeten Anerkennung diesseits und unabhängig von Könnensbezeugung oder erbrachter Leistung. Das sind nicht, wie Karl-Heinz Bohrer in seiner Replik (FAZ 21.10.09) allen Ernstes weismachen möchte, „Lobhudeleien der Gleichheit“, und es geht auch nicht darum, wie er absurder Weise mutmaßt, den „Freigeist Sloterdijk“ mundtot zu machen. Ihm wird lediglich widersprochen, wo seine weltfremde Big-Spender-Euphorie die Bereitschaft signalisiert, hart erstrittene Basics der Zivilisiertheit wie Makulatur vom Tisch zu wischen. Um eine ebenso alarmistische Keule zu schwingen wie vormals Bohrers Alternative „Kapitalismus oder Barbarei“: Respekt oder Barbarei – institutionell verankerte Achtung in der Demokratie oder noble Willkür in einer refeudalisierten Gesellschaft, darum geht es! Menkes Sloterdijk-Kritik, die sich auf die Verteidigung der 'Anerkennungsgleichheit' konzentriert, ist noch moderat, beachtet man, dass Sloterdijk die durch gesellschaftlich erzeugte Ungleichheit aufgeworfene Frage nach der sozialen Gerechtigkeit als praktisch obsolet verabschiedet bzw. dass sie im heroischen „Immundesign“ der von den Eliten iniziierten Apokalypseabwehr als quantité négligeable untergeht. Wer, wie man mit Heidegger sagen könnte, so „groß denkt“ wie der Vertikalstreber Sloterdijk, bei dem steht zu fürchten, dass es ihn nicht weiter interessiert, wenn die Gesellschaft sehenden Auges Opfer produziert: Anerkennungsverlierer, Demoralisierte, Ausgeschlossene, denen nur ein Zyniker einzig das „Du musst dein Leben ändern“ mit auf den Weg gibt.

 

Hans-Willi Weis