18. September 2009

Zweierlei Vollkommenheit oder Sloterdijk kontrovers

 

Zweimal füllte sich in der vorletzten Juniwoche 2009 das Audimax der Exzellenz-Uni Tübingen, das eine Mal kam noch ein Nebenhörsaal mit Videoübertragung hinzu. Für den außeralltäglichen Andrang sorgte unter dem Titel „Anthropologie im Streit der Wissenschaften“ die diesjährige Unseld Lecture, eine dem Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gewidmete Premiumveran­staltung des den wissenschaftlichen Nachwuchs fördernden Forum Scientiarum, getragen von einem Viererkonsortium aus Eberhard-Karls-Universität, Evangelischer Landeskirche, der Klett Stiftung sowie der Udo Keller Stiftung (letztere die Initiatorin der dem Andenken des Suhrkamp-Nachfolgers geweihten lecture). Die Rolle des „ausgezeichneten Vertreters der Wissenschaft“ hatte der an Auszeichnung gewöhnte Medienmargus Peter Sloterdijk inne und folglich hieß der thematische Fokus, der aus den drei Formaten Festvortrag, öffentliche Disputation und einer auserlesenen Graduiertenschar vorbehaltenem Meisterkurs zusammengesetzten Lecture nach dem konzeptuellen Lieblingskind ihres Spiritus Rector Anthropotechnik.

 

Dass indes dieser Begriff im öffentlichen Veranstaltungsteil dann so gut wie keinen Rolle spielte, gibt Anlass zu der Mutmaßung, dass das Konzept Anthropotechnik sachlich wie diskurspolitisch doch nicht das hergibt, was es laut Sloterdijk verspricht. Dieser entwarf in seinem Festvortrag, in der Tonlage des seine Zuhörerschaft bei Laune haltenden Rhapsoden, vor dem innere Auge des nach Alter und Reife vorzüglich gemischten Publikums das zumal abendländische Szenarium des „theoretischen Menschen“, einer von Heraklit bis Husserl die Wissens- und Wissenschaftsformate idealiter bestimmenden Kunstfigur, die der irdischen Existenz abgestorben allein der luftigen Idee reiner Wahrheit und Erkenntnis lebt, gleichviel ob in säkular-wissenschaftlichen Elfenbeintürmen und Studierstuben oder in religiös-spirituellen Klausen und Klausuren. Das Sinnbild dieser engel­haften Erscheinung des theoretischen Menschen, der sich für die Augen der Welt gewissermaßen tot stellt sei bis heute der in Gedanken urplötzlich auf der Stelle stillstehende und so für eine Weile reglos verharrende Sokrates, die Inkarnation eines “von oben“, vom Daimon oder Gott, der Wahrheit oder Erleuchtung „Ergriffenen“.

 

Die (Ein)Übung einer Art Totstellreflex als Inbegriff philosophischer, wissenschaftlicher, for­schender Reflexion – Sloterdijk wäre nicht Sloterdijk, wenn er selbst da nicht  noch eins drauf setzte. So altehrwürdig und in Wissensangelegenheiten nicht ganz erfolglos das Theoriegespenst auch gewesen sein mag, dieser so Sloterdijk „epistemische Scheintote“ falle zuletzt einem Mordkomplott zum Opfer: im 20.Jahrhundert werde das Engelwesen der interessenunabhängigen, nirgends existenziell tangierten Wissenschaft und Erkenntnis von durch die Schulen des Verdachts a la Marx oder Nietzsche gewitzten Ideologiekritikern zur Strecke gebracht, von Wissenssoziologie, Psychoanalyse, Diskurstheorie etc. -  Undank ist der Welten Lohn, möchte man sagen. Sloterdijk aber, als wäre der Schreck des „Angelocids“ ihm selber in die Glieder gefahren, schlägt einen gedanklichen Haken, der auch wo er Beifall findet anhand der Logik des holzschnittartigen Narrativs nicht nachvollziehbar ist: sofern nur in der rechten “Vertikalspannung“, so der Meister auf einmal mit ungewohntem Pathos in der Stimme „geübt“ werde, sehe man zuweilen auch heute „den Engel der Theorie durch den Raum schweben“.

 

Auf den Eröffnungsvortrag folgte anderntags die interdisziplinäre Disputation. Teilnehmende Disziplinen neben der durch Sloterdjik vertretenen Philosophie die Theologie sowie naturwissen­schaftlicherseits die paläolithische Archäologie. Deren Verteter Prof. Nicholas Conard wartete mit Kunst-, Technik- und Übungszeugnissen des Anthropos auf – Flöten, Faustkeile, Venusstatuetten –, die einem Zeitraum von mindestens 40 000 Jahren entstammen. Sloterdjik schreckte nach eigenem Bekunden nicht nur „das Gemurmel“ aus der Unendlichkeit dieser Räume, er bezweifelte auch deren „Beseelbarkeit“, dass wir sie in einen uns verständlichen „heil- oder immunitätsgeschicht­lichen“ Horizont einholen könnten. Kollege Christoph Schwöbel, Prof. für ev. systematische Theologie wusste ihn zu beruhigen, seien doch für den mit der Wendung „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ vertrauten Theologen selbst die entlegensten Zeiten von der einen göttlichen Schöpfungs­zeit umfangen. - Auch Conards leidenschaftlich vorgetragener Schlussfolgerung, der Steinzeitmensch vor 40 000 Jahren habe ebenso scharf gedacht, so kunstsinnig empfunden und sich so differenziert ausgedrückt wie wir heutigen und dass es Herrn Sloterdijk „zurücktransportiert auf die Schwäbische Alb“ als Venusfiguren-Schnitzer garantiert „blendend“ ginge, mochte der Angesprochene nicht folgen. Überzeugend führte er gegen die übereilte Flatrate-Sicht des naturwissenschaftlichen Indiziensammlers das kulturalistische Argument ins Feld, ein schrift­kulturell fomatierter Geist wie der unsrige unterscheide sich derart signifikant vom schriftlosen, dass die beiden schwerlich miteinander kompatibel seien. Die drei Dialogpartner stimmten darin überein, dass allen Menschen, nah und fern, „gleicher Respekt“ gebühre.

 

Schwöbel wiederum sorgte schließlich für die eigentliche Dissensbruchstelle der Disputation, zu deutsch Streitgespräch. Schon im Eingangsstatement mahnte er, den Übungsbegriff nicht zu „dekontextualisieren“, wie es bei Sloterdijk  der Fall ist. Jede Übung sei eine „zu“ etwas, worin sie sich als ihrem Zweck und Kontext, gelingend oder misslingend, realisiere bzw. vollende. Wobei kennzeichnend für religiös-spirituelles Üben sei, dass diese Vollendung, „dieses letzte“, immer „ein Unverfügbares“ bleibe – ob im Christentum, wo es als Geschenk der Gnade vorgestellt wird, oder ob im Buddhismus, wo dem Meditierenden die Erleuchtung ebenfalls zuletzt als unverfügbare „Gabe“ zuteil werde. Hier dürfte noch soviel „Anstrengung“, „Vertkalspannung“, „Artistik“ zwecklos sein, wenn nicht kontraindiziert. Solterdijk hingegen beharrte darauf, dass „die Übungs-und Askesesysteme im Osten wie im Westen zunächst einmal eine andere Sprache sprechen“, dass es „gerade nicht die geschöpfliche Selbstrelativierung“ sei, was „den grossen Übenden“ vor­schwebe, sondern „ein überschwengliches Perfektionsprojekt“. Wer den Ehrgeiz   habe, „noch in der sterblichen Hülle“, wie etwa die indischen Brahmanen, „ein Gottesprojekt“ zu realisieren, pflege „keine Bescheidenheitskultur“, vielmehr eine des „religiösen Enthusiasmus“.

 

Mit „Projekt“ und „Perfektion“ waren die verräterischen Stichworte gefallen, die erkennen oder jedenfalls fürchten lassen, dass Sloterdijks emphatische Umkehr-Predigt  Du musst dein Leben ändern! de facto überhaupt keine Metanoia in Aussicht stellt. Sind doch Projekt und Perfektion die Eckpfeiler – psychologisch gesprochen die Obsession – der rasenden, ökonomisch wie ökologisch ausser Rand und Band geratenen Moderne, die wenn nicht der Umkehr so doch eines geistigen Korrektivs oder Regulativs dringend bedürfte. - Sloterdijks „der Begriff der Perfektion ist der christlichste aller Begriffe“ („Ihr sollt vollkommen sein so wie euer Vater vollkommen ist“ lese man im neuen Testament) konterte der Theologe Schwöbel denn auch zurecht - „Herr Sloterdijk meint es offensichtlich doch Ernst mit dem Streit“ - mit dem Hinweis darauf, dass christliches Vollkom­menheits­verständnis nicht zu trennn sei von der selbstrelativierenden Geschöpflichkeit des Menschen. Das „Vollkommensein wie der Vater“ meine „nicht eine Meditation aller göttlichen Attribute“, sondern „Vollkommensein gerade in der Barmherzigkeit“, damit in der „Zuwendung zu den Armen und denen, die sich nicht vor Gott qualifizieren können...“

 

Deutlich war damit die Differenz in der Sache offengelegt. Gegen Sloterdjiks Affirmation eines letzlich gnadenlosen „starken anthropologischen Perfektionismus“ als der von ihm ausgemachten historischen Wahrheit aller in „steiler Vertikalspannung“ Übenden, die sich nicht in ihre Askesen zurückgezogen hätten, „um geschöpflichen Relativismus mit sich zu betreiben“, stand Schwöbels barmherzigkeits- bzw. rechtfertigungstheologisch fundierte Kritik an jedwedem Steigerungsfuror, am religiösen wie am weltlichen. Wer seine Auffassung teilt, „die Moderne ist in ihrem Streben nach herstellbarer, d.h. nach verfügbarer Perfektionierung kritisierenswert“, kann Sloterdijks artistischem Übungspathos nicht zustimmen, hat es doch fatalerweise bloss mehr desselben im Gepäck. Unverträglich stehen sich zwei Auffassungen von Perfektion resp. Vollkommenheit gegenüber: eine an die von anthropologischem Optimierungszwang entlastende Idee der Gottesebenbildlichkeit rückgebundene und in den heilsam relativierenden  Kontext von Geschöpflichkeit eingebettete; und eine der  dekontextualisierten Transzendenz, vergleichbar der nach obenhin offenen Richterskala, die heillose Steigerungsspiele provoziert und der Hybris des Selbst  Tür und Tor öffnet. - Die intellektuelle Genealogie, in die er sich mit dieser entkernten Transzendenz­vorstellung einreiht, verhehlt Sloterdijk keineswegs. Walter Benjamin hat sie treffend so charakterisiert: „Der Gedanke des Übermenschen legt den apokalyptischen `Sprung` nicht in die Umkehr, Sühne, Reinigung, Buße, sondern in die scheinbar stetige, in der letzten Spanne aber sprengende diskontinuierliche Steigerung...Der Übermensch ist der ohne Umkehr angelangte, der durch den Himmel hindurchgewachsene historische Mensch....eine Sprengung des Himmels durch gesteigerte Menschhaftigkeit ...“

 

 

Hans-Willi Weis