9. Oktober 2008

Homöopathisches Lesen

 

Leute, die von sich behaupten, sie hätten sich noch nie in ihrem Leben gelangweilt, mag man zunächst beglückwünschen oder wird ihnen bewundernd auf die Schulter klopfen. Aber vielleicht wird man auch einfach misstrauisch und glaubt ihnen nicht. Schließlich kommt Langeweile in den besten Familien – und gerade hier – vor. Und wer sich ihrer schämt, kann immer noch die Verantwortung für die Verursachung von Langeweile an andere abgeben: ein langweiliger Film, ein langweiliger Gesprächspartner, ein langweiliges Buch etc. Man selbst hat sein Bestes getan, allein die Situation war von vornherein nicht zu retten. Wie viele Leute man selbst gelangweilt hat, wird man wohl nie erfahren, und das ist auch ganz gut so. Die totale Wahlverwandtschaft ist auch eher unwahrscheinlich.

 

Damit einem langweilig ist, braucht es aber nicht notwendigerweise zwei oder drei oder viele, sondern oft fatalerweise nur einen, und der ist man selbst. Langeweile als kurzes, unverfügbares Gefühl mag schnell wieder verschwunden sein, aber da gibt es ja noch Langeweile als Stimmung, die ebenfalls nicht verfügbar ist und als deren Sozius man sich überhaupt nicht wohl fühlt. Plötzlich ist sie da, diese Leere, diese völlige Unangebundenheit, Energielosigkeit, Entschlusslosigkeit, und man steht da wie ein appetitloser Buridanscher Esel zwischen den Schätzen der Welt. Eine Sache für den Therapeuten? Vielleicht. Aber vielleicht hat man Heideggers „Sein und Zeit“ zur Hand, wenn man selbige noch ausstrecken kann, und kann sich aufraffen, ein bisschen darin zu blättern und Auskunft über diesen zunächst einmal nur misslichen Zustand zu bekommen. Nun, man wird reich belohnt. Der Zustand, in dem man sich befindet, ist nicht einfach nur Langeweile, sondern „tiefe Langeweile“. Auf diese Dignität hätte man nicht spekuliert. Plötzlich fühlt man sich erwählt, weil diese Stimmung selber eine auserwählte ist. Man folgt den weisen Worten des Philosophen, und man fühlt sich schon viel weniger gelangweilt als gerade noch, man sieht sich selbst, seine Malaise, beispielhaft entfaltet in den manchmal etwas eigenartigen Worten und Sätzen des Philosophen, man taucht ganz tief hinunter zum Boden des Seins, wo einen nichts erwartet, aber gerade das ist die Botschaft, niemand kann einem etwas abnehmen in den mehr oder weniger wichtigen Dingen des Lebens, man muss Münchhausen spielen, und dieses Spiel ist der eigentliche philosophische Ernst des Lebens.

 

Wer etwas mehr über den Weg erfahren möchte, den die Langeweile zurückgelegt hat von dem, was als „Mönchskrankheit“ bekannt geworden ist bis zu ihrer Ordensverleihung durch Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts, könnte zu Jürgen Großes Buch „Philosophie der Langeweile“ greifen. Ob er oder sie es sollte, ist die Frage. Bei aller wirklich beeindruckenden Materialfülle krankt das Buch daran, dass es keinen Spaß macht, es zu lesen, und das ist wirklich sehr schade. Große befleißigt sich einer Sprache, die entschieden abstößt. Sie ist unangenehm professoral, möchte vielleicht elegant sein, ist aber nur ohne Not überkomplex. Erfordert das Schreiben über Langeweile eine solche Sprache, mit der man eine lange Weile zu tun hat? Der Leser hat also seine liebe Not mit Jürgen Große, und vielleicht liegt darin die vertrackte Dialektik des Buchs, dass man es, wie intensiv auch immer, benutzen kann, um über das hinweg zu kommen, was das Buch gerade dabei ist zu artikulieren.

 

Dieter Wenk (09-08)

 

Jürgen Große, Philosophie der Langeweile, Stuttgart/Weimar 2008 (Metzler)