28. Juli 2008

Viersäftelehre

 

Welcher Teufel hatte Pierre Guyotat, Jahrgang 1940, geritten, als er diesen Text Ende 1968, Anfang 1969 schrieb? Eine Abrechnung mit der katholischen Kirche, die er als Internatsschüler kennen lernte? Oder eine Verarbeitung seiner Erlebnisse im Algerien-Krieg Anfang der 60er Jahre? Jedenfalls erwirkte der französische Innenminister bereits einen Monat nach Erscheinen des Buches im Jahr 1970 ein Verbot insofern, als es weder in Buchläden ausliegen noch dafür geworben oder an Minderjährige verkauft werden durfte – trotz prominenter nationaler und internationaler Proteste und Petitionen. Erst gut zehn Jahre später wurde das Verbot aufgehoben.

 

Als ob man etwas geahnt hätte, erschien die Erstauflage gleich mit drei Vorworten, zur Absicherung, Vorwegorientierung, Legitimierung: Michel Leiris, Roland Barthes und Philippe Sollers taten ihr Bestes, auf je ihre Art den Dampf raus zu lassen. Genutzt hat es dem Text nichts, denn bereits vor der Buchausgabe war ein Teilabdruck in der Avantgardezeitschrift „Tel Quel“ erschienen; Internatsschüler waren beim Schnüffeln in Guyotats Textauszug aus Éden, Éden, Éden erwischt worden, der als nicht jugendtauglich klassifiziert wurde. Guyotat verlor überdies sein Stipendium, so hatte man sich die Goldeselei nicht vorgestellt.

 

In einem hatten der Innenminister und seine Chargen völlig recht: Éden, Éden, Éden ist ein richtig schmutziges Buch. Während man im normalen Leben und auch meist in der Literatur versucht, die Körperöffnungen im Beisein anderer so weit es geht unsichtbar und geschlossen zu halten, um das Miteinander einigermaßen verträglich zu gestalten, kann davon in Guyotats Buch keine Rede sein. Es sind die Säfte und Ströme aller körperlichen Art, die hier im Mittelpunkt stehen. Schweiß, Blut, Sperma, Kot, Speichel. Natürlich gibt es auch ein Personal mit so wunderbaren Namen wie Hamza, le Maître de foutrée, Wazzag, Khamssieh, Khemissa, aber das Personal wird später komplett ausgetauscht, die Schweinereien gehen jedoch weiter wie zuvor. Es gibt keine Handlung, es gibt nur Beschreibungen körperlicher Drehmomente, die auf die eine oder andere Art auf Entleerungen besagter Körpersäfte hinauslaufen. Das ganze auf 270 Seiten, ohne Punkt und Absatz, manchmal lernt man eine neue Interpunktion kennen: „;. ;“ oder: „.. ;/“. Alles in einem Satz, mit vielen Kommas und Semikola, auf Seite 270 bricht der eine Satz ab, das letzte Wort, wohl nicht ganz zufällig: Venus.

 

Spätestens seit dem „nouveau roman“ war die A-Psychologie der Romanfiguren Teil des Arsenals avantgardistischer Texte. Vielleicht auch deshalb fällt es schwer, den Pornografie-Vorwurf nachzuvollziehen, den man Guyotats Text natürlich gemacht hat. Dazu ist Éden, Éden, Éden viel zu kalt geschrieben. Es gibt keine Spannungsmomente, alles bekommt den gleichen Textraum zugemessen, die Sexual- und Fäkalregistratur geht unerbittlich ihren Gang. Während Pornografie wie eine schnell ansteigende Sinuskurve mit möglichst hohem Amplitudenwert sein möchte, hat man es hier messtechnisch praktisch mit einem Kadaver zu tun. Mit einem unglaublichen Gleichmut geht die Reise von Lache zu Lache, von gymnastischen Exerzitien von Eigen- und Fremdkörperbeherrschung zu immer wiederkehrenden Momenten, in denen sich die Figuren vor Lachen ausschütten oder lachend zusammenkrampfen. Kein drittes Auge, kein auktorialer Zeigefinger hemmt den Fluss der Dinge, mit einer Selbstverständlichkeit ohne Gleichen arbeiten die Zapf-, Speicher-, Erregungs-, Ausdünstungs- und Ausscheidungsorgane.

 

Wo spielt sich das alles ab? Vielleicht irgendwo in Afrika, dann tauchen aber auch atomare Stationen auf, eine Gemengelage aus fiktivem (?) Kolonialkrieg, apokalyptischer Landschaft und einer die komplexe Seelenlandschaft vieler Romane völlig außer Acht lassender Beschreibung fast reiner Körperfunktionalität mit Blick auf die Aneignung von Körperflüssigkeit aller Art des Gegenüber, Darüber, Darunter, Dazwischen usw. Roland Barthes haben diese Körpersäfte wohl zu sehr angegriffen, Ende der 60er Jahre durfte ein avantgardistischer Text zudem per definitionem nicht wirklichkeitsverweisend sein, alles löste sich ganz wunderbar in einem geruchs- und geschmacklosen Spiel der „Signifikanten“ auf. Aber will man wirklich wissen, „was mit dem Signifikanten passiert“? – so der Titel von Barthes’ Vorwort. Der Witz von Guyotats Buch besteht doch genau darin, paradiesische Zustände geschildert zu haben, aber dazu muss man nicht Linguist werden, sondern ein Kleinkind, dem als wahrer Geschmacksdemokrat alles mundgerecht ist. Fast.

 

Dieter Wenk (07-08)

 

Pierre Guyotat: Éden, Éden, Éden, Paris 1970 (Gallimard)

 

 

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