7. April 2008

Konjunktur der Fiktion

 

Auf dem Umschlag nur die einprägsame Formel: »Die Realität ist unwahrscheinlich, und das ist das Problem.« Man kann dabei sprachanalytische Bedenken bekommen. Wenn irgendetwas als wahrscheinlich gelten darf, dann Realität, oder? Und ist nicht ein graduelles Konzept wie das der Wahrscheinlichkeit schon rein formal angewiesen auf eine Realität, die sozusagen das eine Ende der Skala markiert – 100 Prozent Wahrscheinlichkeit? Folgt das nicht der üblichen Verwendung eines Begriffes, der sich über das, was ist, von dem unterscheidet, was sein könnte, noch nicht ist, was geträumt wird oder erdacht wurde oder aus irgendwelchen Gründen nicht eintritt? Etwa, weil es nicht den Naturgesetzen entspricht?

Die Realität – womit sowieso irgendwie zu rechnen ist: Zahnschmerzen und Spam-Mail. Gerade so möchte die italienische Kommunikationssoziologin Elena Esposito das Zitat nicht verstanden wissen. Nach ihrem Verständnis ist die Realität unwahrscheinlich, sofern sie sich nicht umstandslos mit Vorausberechnungen und Statistiken decken wird. Die Wirklichkeit tut das gerade deshalb nicht, weil Statistiken zwar fiktionalen Charakter haben, aber auf die »reale Realität« zurückwirken und insofern auch wieder real sind. Der zweite zentrale Begriff hier lautet folglich: fiction.

In Espositos systemtheoretischer Terminologie fallen Wahrscheinlichkeitsrechnung und fiction gemeinsam unter den Begriff der Realitätsverdopplung, mit dem sie die reale Realität von einer anderen Art Realität unterscheiden möchte, die betontermaßen nicht minder real ist. Fiktional und zugleich real ist demnach »die Scheinrealität der Romane, die keine Lügen sind, obwohl sie von Personen und Ereignissen handeln, die nicht existieren und niemals existierten ... aber auch ... das Wahrscheinliche, das nicht notwendigerweise wahr ist, selbst wenn es nicht falsch ist.« Die Verfügbarkeit dieser alternativen Sphären, so Esposito, verändert die Bedeutung des Realen selbst: »Für den Beobachter entsteht erst dann Realität, wenn es in der Welt etwas gibt, wovon sie unterschieden werden kann.«

Die Geburtsstunde der beiden fiktionalen Wirklichkeiten datiert Esposito auf Ende des 17. Jahrhunderts und belegt die historische Parallelität einigermaßen ausführlich. Esposito glaubt durch den Geschichts-Exkurs die Rolle verstehen zu können, die statistische Erkenntnisse in der Gegenwart spielen. »Meinungsumfragen, Konjunkturprognosen und Statistiken aller Art sind in unserer Welt wichtige Anhaltspunkte für die Realität geworden. Sie gelten als informativ.« Ursprünglich habe die Wahrscheinlichkeitsrechnung jedoch das Ziel verfolgt, »Wegweiser für die obskuren Bereiche der Unsicherheit und der bloßen Meinungen – nicht reale Bereiche par excellence also – anzubieten«. So erlebten wir gegenwärtig eine Akzentverschiebung, in deren Folge das Irreale den Platz des Realen annimmt. Hier geht es Esposito offensichtlich darum, den grundsätzlich fiktionalen Charakter von Wahrscheinlichkeitsrechnungen schon aus historischen Gründen zu belegen.

 

Elena Esposito hat 1987 ein Philosophie-Diplom bei Umberto Eco erworben und später in Bielefeld bei Niklas Luhmann promoviert; zuletzt beschäftigte sie sich mit Medien- und Modetheorie sowie der Gedächtnisforschung. »Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität« handelt indessen von ökonomischer Theoriebildung, was nicht gleich deutlich wird. Genau genommen geht es darum, einer These des umtriebigen Ökonomen und Investmentbankers George Soros beizupflichten (»Die Alchemie der Finanzen«) mit dem Versuch, sie systemtheoretisch zu untermauern. Soros habe ungewöhnlich hohe Börsengewinne erzielt, weil er die Funktion von Statistiken erkannt habe, die nämlich nicht die Wirklichkeit abbilden, sondern lediglich die Einschätzung der Akteure über deren Entwicklung. Soros nennt das Reflexivität, und Esposito nimmt den ganz realen ökonomische Erfolg zum Anlass, die passende Praxis zu ihrer Theorie zu finden.   

Das spiegelt sich in der Struktur des Essays wider, der den Moment der Theoriezusammenführung etwas umständlich vorbereitet, sodass sich die Argumentation nur rückwirkend nachvollziehen lässt. Da ist die historische Parallele von Literatur und Wahrscheinlichkeitstheorie, Grundlegendes über das Verhältnis von Fiktion und Welt oder allzu Konkretes über »Reality-TV und die Irrealität der Welt«. Vorbereitungen, deren Argumentationsgehalt sich mit dem Wissen um die ökonomische Zielsetzung leichter hätte prüfen lassen.

Die Verwendungsweise ihrer Begriffe reflektiert Esposito kaum. Es gibt zwar gezielt paradoxe Formulierungen wie »sichere Risiken«, aber auch offene Widersprüche zum Beispiel bei der Frage, ob es eigentlich Zufälle gibt (nein, erklärt Esposito, und spricht trotzdem wiederholt von zufälligen Ergebnissen), oder im Konzept von Realität (grundsätzlich konstruktivistisch verfasst, aber das scheint die Existenz einer »unmittelbaren Realität« nicht zu beeinträchtigen). Auch »Wahrheit« und »Wirklichkeit« werden nicht ausreichend unterschieden, mit einer Folge von Fehlschlüssen.

Es bleibt die Einsicht des Schlusskapitels: »Wir leben in einer Zeit, in der die reale Realität immer undurchsichtiger wird.« Und Soziologie war nie realer.

 

Ralf Schulte

 

 

Elena Esposito: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, edition suhrkamp 2007, € 8,50

 

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