27. Dezember 2007

Neue Ära der Popmusik

 

 

Als ich in den 80ern – damals noch mit meinen Eltern – zum ersten Mal über Kabelanschluss und somit über MTV verfügte, hat sich im gewissen Sinne mein Leben verändert. Da ich seit je her, eben seit den 80ern, Popmusik liebe, visualisierte sich mit einem Schlag eine Leidenschaft, die bis zu diesem Zeitpunkt primär akustisch war. Zuvor gab es nur Formel 1, wahlweise mit Ingolf Lück, Stefanie Tücking oder Peter Illmann, aber Formel 1 verhielt sich zu MTV in etwa so wie ein Topf Salzwasser zum Pazifik. MTV war, als man es noch nicht empfing, fast eine Verheißung: Den ganzen Tag, so erzählte man sich auf dem Schulhof, würden dort Musikvideos laufen – und in der Tat: So war es auch. MTV war innerhalb weniger Stunden zu durchschauen, und in Kürze war man Fan von absurder Musik und den hübschen Moderatorinnen. Die hießen zum Beispiel Rebecca de Ruvo oder Kristiane Backer und moderierten, aber es war Banane, um welche Sendung es sich handelte, denn es kamen sowieso nur Musikvideos. Einige Formate gab es, die sich einer bestimmten Musikrichtung widmeten: In „Yo – MTV raps“ mit Fab Five Freddy ging es um Heavy Metal und in „Headbangers Ball“ um Rapmusik. Umgekehrt.

 

Das Musikvideo und sein Boom in MTV prägte die Popmusik in allen Belangen: Einerseits brachte diese Ära Popstars hervor, die, ohne dass man sie sehen konnte, es sicher nicht zu Popstars gebracht hätten, andererseits visualisierte sich auch die Musik von ernst zu nehmenden Musikern. Der erste Eindruck, den man von einem Lied oder gar einem neuen Album hatte, war ein visueller, denn oft waren Videos so spektakulär, dass das Lied zwangsläufig zum Soundtrack degradiert wurde. Im Zusammenfallen von bewegtem Bild und Ton perfektionierte die Popmusik ihr wesentliches Potenzial der perfekten Oberfläche. Aus der Opulenz der Bilder entwickelten sich sogar eigene Musikstile: Musikproduzenten wie Trevor Horn oder Tony Visconti versuchten mit der Opulenz der Bilder standzuhalten, während die Briten Stock, Aitken und Waterman sich an einem Fahrstulelektropop abarbeiteten, der nicht davon ablenkte, Kylie Minogue, Rick Astley, Sique Sique Sputnik, Mel, Kim oder Samantha Fox beim Tanzen zuzuschauen.

 

Mit dem Erfolg von MTV einher ging eine komplette Veränderung des Verhältnisses von Fernsehen und Popstar. Waren es früher die Stars, die vom Fernsehen umgarnt wurden, im Fernsehen aufzutreten, gieren heute halb Bekannte und Unbekannte darum, im Fernsehen zu erscheinen. Diesem Mechanismus gab sich MTV auch hin und entwickelte sich nach und nach zu einem globalen Senderkombinat, der seine Sendezeit an jeden verkaufte, der sie haben wollte. Gleichzeitig begann man mit Sendungen, deren Sinn gerade darin bestand, unbekannten Menschen eine Plattform zu bieten, um ins Fernsehen zu kommen. Ehe man es sich versah, gab es auf MTV nur noch Klingeltöne, Mutprobensendungen, Reparaturratgeber und Kuppelshows. Die Erosion des Musikfernsehens geschah zudem zeitgleich mit der Loslösung der Musik, des Tons von seinem Träger und dem damit verbundenen Niedergang der Tonträgerindustrie. Im gewissen Sinne zerfielen also in wenigen Jahren zwei wesentliche Erscheinungsformen von Popmusik: der Tonträger und MTV. Da überrascht es nicht, dass inzwischen Bands und Musikstile populärer geworden sind, die im weitesten Sinne dieses Wortes musizierter sind als Popmusik, deren Sinn vor allem darin besteht, ein Musikvideo zu vertonen, um wiederum eine CD zu verkaufen.

 

Noch ist unklar, was in dieser Ära von Post–MTV nun genau geschehen wird. Zwar ist fast das gesamte Musikvideoarchiv der Menschheit im Internet frei zugänglich (YouTube behauptet, um genau zu sein, Ende 2008 alle online haben zu können); zwar gibt es auch seitens MTV erste Versuche, das MTV-Gucken im Netz zu reanimieren, indem man sich dort seine bevorzugten Musikvideos zu privaten Sendungen zusammenstellen kann; zwar beginnen Regisseure von Musikvideos allmählich, ihre Ideen für kleinere Bildformate, wie sie im Netz übertragbar sind, zu planen; zwar gibt es großartige Blogs und Foren, in denen sich unverbesserliche Fans der Musikvideos austauschen und vernetzen (siehe einige Links am Ende des Textes); zwar verkauft Apple nach eigenen Angaben Musikvideos im iPod-kompatiblen Format in hohen Stückzahlen - all dies ändert aber nichts daran, dass das Primat des Visuellen in der Popmusik zunächst beendet scheint. Und der Umbruch zeigt erste, auffällige Folgen: So ist mit Jeniffer Lopez ein Star der Musikvideo-Ära den Erfolg losgeworden, weil Videos heute nicht mehr in der Lage sind, grottige Popmusik zu übertünchen; so hat Kylie Minogue erstmals in ihrer Karriere bei einer ersten Single einer neuen Platte dem Lied mehr Sorgsamkeit gewidmet als dem Video; so veröffentlichten Arcade Fire kürzlich das erste, rein auf Flash-Grafiken basierende Musikvideo, das im Fernsehen gar nicht zu senden ist.

 

Wirkliche Antworten auf die Entvisualisierung der Popmusik scheint, der Popticker wiederholt sich, vor allem von jungen Pomusikerinnen zu kommen, die in meist durchweg eigenverantwortlichem Schaffen eine Art Autorschaft von Popmusik erfunden haben bzw. derzeit erfinden: Autorinnenpop, wie es der Popticker, der sich hier wiederholt, sich zu wiederholen, bereits ein paar Mal genannt hat. Camille, Kate Nash, Lily Allen, Leslie Feist, Scoutt Niblett, KT Tunstall haben es vorgemacht, und in Kürze erscheinen mit den Platten von Remi Nicole, Candie Payne, Devon Sproule oder Simone White weitere Alben von Vertreterinnen des Autorinnenpops. Natürlich ist ein erfundenes Genre immer auch erfunden, um eine Vorliebe zu subsumieren, aber der Trend ist dennoch nicht ganz von der Hand zu weisen. Und so kann der Popticker in einem Satz zusammenfassen, der beide neuen Begriffe noch einmal verwendet: Der Post-MTV-Pop ist Autorinnenpop.

 

 

Ach, ja: Album des Jahres 2008 ist im Übrigen, das ist äußerst wahrscheinlich, die neue Platte von Camille, die im März erscheint!

 

David Gieselmann

www.popticker.de

 

 

ZWEI LINKS ZUM THEMA:

Arcade Fires Flash-Video zu „neon bible“ beonlineb.com/click_around.html

Der wohl beste Musikvideo-Blog im Netz videos.antville.org