10. Mai 2007

Art (if possible)

 

Rancière schreibt nichts Geringeres als eine Ästhetik, vorwiegend durch Absetzungen davon, was diese nicht ist: Sie ist keine Theorie der Empfindung, keine Bestimmung des Bereichs der ästhetischen Objekte, ihrer Gattungen und Hierarchien oder, diesen Vater möchte er nur allzu gerne morden, keine sinnliche Welt, die der Idee niemals gereicht und als solche in Kant’schem Geiste von Lyotard beschrieben worden ist.

 

Das Büchlein ist ein kunsthistorisch u. a. gegen Benjamins Aufsatz über die Reproduktion und handelsübliche Theorien der Fotografiegeschichte und die Moderne ausschlagender Abgesang auf die Unterscheidung zwischen l´art pour l´art und engagierter Kunst, da beide in selbem Maße ungeachtet ihres absichtlichen Wirkens in ein Regime der Sichtbarkeit eingebunden sind, das sich anders bestimmt als durch das Wollen der Künstler. Deren Agieren scheint nur eine weitere Variante der Gewöhnlichkeit des Diskurses, der die „bestehende Ordnung ´kritisch` verdoppelt“. Wie die Politik im Gegensatz zur Polizei dafür sorgt, so in Das Unvernehmen zu lesen, dass die Selbstverständlichkeiten zum Kryptogramm und damit sichtbar werden, so ist es Aufgabe der Künste, die Lebenswelt in gerechter Weise neu zu einer Welt der Gleichheit umzugestalten. Die Linien zwischen Zuschauer und Akteur, Sinnlichem und Intelligiblem, Aktivität und Passivität neu aufzuteilen gewährten eine Welt, in der nicht vorab das Entscheidende bereits festgelegt ist: wer zur Aussage berechtigt ist.

 

Statt einer Ausarbeitung des Begriffs der (Post)Moderne und den Versuchen historischer Absetzungen und Grenzziehungen versucht sich Rancière in einer fast ahistorisch zu nennenden Neudefinition des Sinnlichen, das von einer nicht näher bestimmten, aber doch stets retrospektiv-konstruktiven Faktizität in die Wahrnehmung und die daraus gebildeten Geschichten verlegt wird. Das Fingieren und Erzählen von verständlichen Strukturen gehört keiner Ordnung aus Lüge und Wahrheit mehr an, sondern liefert Möglichkeiten der Betrachtung, die gegen die bestehenden Narrationen gesetzt werden können. Die Historie als Dichtung blockiert nicht den Zugang zu einer immer davoneilenden Wirklichkeit, sondern ermöglicht die Handlung der Akteure und die Formulierung eines Dissens vor immer schon heterogen gewesenen Diskursen.

 

Das Paradox der Kunst, und hier findet sich eine Anlehnung an Adorno, ist gerade ihr Absolutes-besonders-Sein, das doch keiner pragmatischen Regel gehorcht und im selben Moment Gleichheit und Heterogenität garantiert. Rancière fordert eine Kunst, die „direkt die zur Welt gehörigen Dinge produziert“ und den „ihr zugewiesenen Orten gänzlich entkommt“. Eine schöne Utopie der Selbstabschaffung, die, und diese Zweigleisigkeit ist Ranciére durchaus bewusst, gleichzeitig einen unmöglichen, sich der realen Welt entgegensetzenden Ort formuliert, aber diesen auch als einen anbietet, in dem die Worte in die sinnliche Welt transkribiert worden sind. „Recht hübsch ist diese ganze Geschichte, verwirklichen aber wird sie sich nie und nimmer“ wird schon Platon im Staat von jungen Menschen vorgeworfen. Auf eine Kunst dieses Vermögens muss noch gewartet werden.

 

Hannes Loichinger

 

Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, Herausgegeben von Maria Muhle

b_books - Reihe POLYpen 2006