12. Februar 2007

Amtsübergabe

 

Der Schweizer Schriftsteller und Dichter C. F. Meyer ist nie in seiner Gegenwart angekommen. Das war auch nicht sein Ziel. Er schloss seine Augen und wandte sich anderen Zeiten zu, die seinen Vorstellungen und Träumen vom großen Menschen besser entsprachen. Aber anders als sein Zeitgenosse Nietzsche, der ebenfalls in geistiger Umnachtung starb, trat Meyer ganz unaggressiv und unhysterisch auf. Schon seine Sprache zeigt es an, man betritt Kunstland, eine formschöne Insel mit Bewohnern, deren Rede uns auf Distanz hält und im besten Fall bezaubert. Alltag bleibt ausgespart, und wenn nicht, dann darf der Leser zuschauen bei den schönen Nichtigkeiten von Priestern, Königen, Nonnen, Rittern und Helden. Historische Richtigkeit ist Meyers Anliegen allerdings nicht. Das ist aber auch nicht nötig, denn welcher Leser wüsste die feinen Unterschiede mittelalterlicher Befindlichkeiten aus dem 9. und dem 12. Jahrhundert gegeneinander abzugrenzen. Hauptsache also, die Sachen sind weit weg und lassen einen in Ruhe. Merkwürdig bleibt natürlich, dass Meyer meist Stoffe gestaltet, in denen seine Protagonisten ganz und gar nicht in Ruhe gelassen werden. Sie quälen sich entweder selbst, oder werden von anderen getriezt. Für keine andere Erzählung ist Meyer so weit zurückgegangen wie für die späte „Richterin“ (1885), sie spielt zur Zeit Karls des Großen, der auch selbst in die Handlung eingebunden ist. Sollte man diese Maßnahme Meyers als Anzeichen dafür nehmen, dass er sich etwas vom Leib schreiben wollte, ohne in die Gefahr zu geraten, sich zu sehr zu exponieren? Biografisch könnte man natürlich an seine enge Beziehung zu seiner Schwester denken, vor allem nach dem Tod der strengen Mutter. Denn genau eine solche Beziehung wird im Lauf der Geschichte zum alles bestimmenden Thema, ohne dass das an deren Beginn bereits absehbar wäre. „Die Richterin“ ist eine Erzählung, die im Gegensatz zu vielen anderen ohne Rahmen auskommt und doch wie eine Zwiebel mit ineinander übergehenden Schichten gebaut ist, in deren Mitte ein Kern steckt mit zugleich anziehender und abstoßender Kraft. Der Zauber dieser Erzählung liegt vielleicht darin, dass man beim ersten Lesen nicht gleich die gar nicht mal zahlreichen familiären und verwandtschaftlichen Beziehungen durchgängig präsent hat, um sie mit den jeweiligen Handlungen der Personen abgleichen zu können. Das gilt besonders für die Titelfigur, die die Hüterin eines Geheimnisses ist, um das sich die ganze Geschichte dreht. Aber dieses Geheimnis trägt der Leser nicht die ganze Zeit mit sich in der Erwartung, dass es sich löse, im Unterschied etwa zu Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Es gibt zwar so etwas wie ein, zwei Aufträge ganz zu Beginn, die auf Abarbeitung warten, aber deren ganz allmähliches Prozessieren rauen überhaupt erst ein ganz anderes Thema auf, eine sich ankündigende Inzestgeschichte, deren weitere Entwicklung den Witz der Geschichte ausmacht. Ganz in der Tradition von Kleists „Zerbrochenem Krug“ rollt sich hier die Erzählung beinah wie von selbst auf und bringt Dinge an den Tag, deren Entdeckung selbst integraler Bestandteil der Ausgangssituation des Ganzen war. Das kann man Schicksal oder Mythos nennen, mit dem Unterschied, dass der Leser das natürlich zum ersten Mal erfährt und so gewissermaßen Arbeit am Mythos leistet. Er steckt also selbst mittendrin, weil hier vertrackte Situationen unterschwellig verhandelt werden, die mit Karl dem Großen nicht ausgestorben sind, die viel eher als immer gegenwärtige vorsichtig nach hinten abgeschoben sind, Fragen, die mit Verantwortung, Ehrlichkeit gegenüber sich und anderen und der ganzen Fassadenkonstruktion des eigenen Ich zu tun haben. Man ist so klug, weil man nicht durchschaut werden will. Man richtet andere, weil man nicht selbst gerichtet werden möchte. Und dann baut man eben auch Geschichten auf, Lügengeschichten, in denen man sich selbst verfängt, weil man nicht alle nachfolgenden Handlungen und Situationen selbst in der gestaltenden Hand hat. Das ist von Meyer hier ganz wunderbar in Szene gesetzt mit archaisch wirkenden Charakteren, märchenhaft anmutenden Traumsequenzen, ganz reale Wirkungen zeitigenden Trugbildern und insgesamt einer selten anzutreffenden Erzählweise, bei der man nicht unterscheiden kann, was zur Haupthandlung und was nur zum Atmosphärischen gehört. Dieses Changieren ist das zentrale Element dieser vielleicht schönsten Erzählung Meyers, deren Ende ebenso tragisch wie glücklich ist. Man würde „Die Richterin“ gerne verfilmt sehen, irgendetwas schrecklich Monumentales steckt darin und lässt einen nicht los.

 

Dieter Wenk (02.07)

 

Conrad Ferdinand Meyer, Die Richterin, in: Conrad Ferdinand Meyer, Sämtliche Werke, München o. J. (Knaur), S. 536-590