27. Oktober 2006

Denkbar unzeitgemäß

 

Für Michael Braun darf es ruhig wieder ein bisschen größer sein. Wo noch nicht einmal mehr das Haupt des Orpheus, das unerhörte, unversehrt unterwegs ist. Überall sind die Verkleinerer am Werk, die alles Gute und Schöne kaputt machen und dem Spott preisgeben. Leute, die nicht nachvollziehen können oder wollen, dass „Religionen Gedichte sind“ oder, besser noch, „Gedichte Religionen“. Eine verrannte Situation, die Michael Braun so beschreibt: „Der Regelfall ist die Ridikülisierung jeder ernsthaften Beschäftigung mit religiösen Themen.“ Warum fragt sich Braun nicht auch mal, dass der Normalfall etwas mit der Wortwahl zu tun hat, die sich aus einem kleinen, aber sehr tiefen Fettnapf speist, der kein Hofmannsthal’scher Brunnen mehr ist. Die Verwendung des Wortes „Ridikülisierung“ ist kein Akt der Immunisierung. Im Gegenteil. Es führt die feine lyrische Nase direkt zum ursprünglichen rhetorischen melting pot. Was man hier erfahren kann, ist durchaus auch Immunisierung gegen Poesie. Wie viel mehr erst gegen Religion. Wenn Michael Braun gegen die Pflichtprogrammierung des Intellektuellen auf Agnostizismus wettert, so möchte man natürlich gerne wissen, was er dem entgegenzustellen hat, zumal auch das Gros der Dichter ihr Programm auf Dekonstruktion ausgerichtet haben; kein Rilke’scher Baum steigt mehr. Braun begleitet zum Beispiel den Dichter Michael Krüger in die Kirche. Dieser erfährt dort das gängige Debakel, die Routine. Wieder draußen, sieht er plötzlich anders, oder mehr: „Draußen lag ein unerwartet helles Licht…“ Michael Braun darf sich freuen, da ist es doch wieder, oder immer noch, die „poetische Erleuchtung“, die man am besten gleich als „Epiphanie“ apostrophiert. Da das aber immer noch zu wenig ist, spricht Braun einen Absatz weiter – man hat es ja fast erwartet – vom „Einbruch des Religiösen in das Wahrnehmungsfeld eines ironisch abgeklärten und skeptisch durchtrainierten Intellektuellen“. Natürlich kann sich jeder darüber freuen, wenn er die „Unterseite der Blätter“, wie Krüger, zu sehen bekommt. Und wenn so was in einem Gedicht steht, weiß man aus dem Deutschunterricht, dass das ganz viel bedeuten kann. Aber lasst doch bitte die blöde Religion aus dem Spiel, denn sie ist der einzige Unsinn, der in kein Gedicht gehört. Religion ist keine poetische Folie. Sie ist der Wahnsinn, der die Genesis des Gedichts zum Stehen bringt. Man gebe ihr Hausverbot im „Haus des Seins“, denn sonst hört sie nicht auf, sich überall anzuschleichen, wie bei Brauns unfreiwilligem sprachlichem faux-pas am Ende seines Eröffnungsessays: „Die Dichter haben die Institute der Religion zwar verlassen; die Daseinsqual einer Christine Lavant, deren existentieller Höllenschmerz auf religiöser Verzweiflung gründete, ist heute kaum mehr dankbar [sic].“ Das Unbewusste ist halt immer noch der größte Dichter.

 

Dieter Wenk (09.02)

 

Michael Braun, Der zertrümmerte Orpheus. Über Dichtung, Heidelberg 2002 (Wunderhorn)